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Bereits verlegte Stolpersteine



Doris Schreiber * 1940

Marckmannstraße 135 (ehemalige Kinderklinik) (Hamburg-Mitte, Rothenburgsort)


DORIS SCHREIBER
GEB. 6.10.1940
ERMORDET 20.8.1944

Weitere Stolpersteine in Marckmannstraße 135 (ehemalige Kinderklinik):
Andreas Ahlemann, Rita Ahrens, Ursula Bade, Hermann Beekhuis, Ute Conrad, Helga Deede, Jürgen Dobbert, Anneliese Drost, Siegfried Findelkind, Rolf Förster, Volker Grimm, Antje Hinrichs, Lisa Huesmann, Gundula Johns, Peter Löding, Angela Lucassen, Elfriede Maaker, Renate Müller, Werner Nohr, Harald Noll, Agnes Petersen, Renate Pöhls, Gebhard Pribbernow, Hannelore Scholz, Ilse Angelika Schultz, Dagmar Schulz, Magdalene Schütte, Gretel Schwieger, Brunhild Stobbe, Hans Tammling, Peter Timm, Heinz Weidenhausen, Renate Wilken, Horst Willhöft

Kinderkrankenhaus Rothenburgsort

Im früheren Kinderkrankenhaus Rothenburgsort setzten die Nationalsozialisten ihr "Euthanasie-Programm" seit Anfang der 1940er Jahre um.
33 Namen hat Hildegard Thevs recherchieren können.

Eine Tafel am Gebäude erinnert seit 1999 an die mehr als 50 ermordeten Babys und Kinder:

In diesem Gebäude
wurden zwischen 1941 und 1945
mehr als 50 behinderte Kinder getötet.
Ein Gutachterausschuss stufte sie
als "unwertes Leben" ein und wies sie
zur Tötung in Kinderfachabteilungen ein.
Die Hamburger Gesundheitsverwaltung
war daran beteiligt.
Hamburger Amtsärzte überwachten
die Einweisung und Tötung der Kinder.
Ärzte des Kinderkrankenhauses
führten sie durch.
Keiner der Beteiligten
wurde dafür gerichtlich belangt.



Weitere Informationen im Internet unter:

35 Stolpersteine für Rothenburgsort – Hamburger Abendblatt 10.10.2009

Stolpersteine für ermordete Kinder – ND 10.10.2009

Stolpersteine gegen das Vergessen – Pressestelle des Senats 09.10.2009

Die toten Kinder von Rothenburgsort – Nordelbien.de 09.10.2009

35 Stolpersteine verlegt – Hamburg 1 mit Video 09.10.2009


Wikipedia - Institut für Hygiene und Umwelt

Gedenken an mehr als 50 ermordete Kinder - Die Welt 10.11.1999

Euthanasie-Opfer der Nazis - Beitrag NDR Fernsehen 29.05.2010

Hitler und das "lebensunwerte Leben" - Andreas Schlebach NDR 24.08.2009
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Doris Schreiber, geb. 6.10.1940 in Hamburg, ermordet am 20.8.1944

Als Doris im Oktober 1940 geboren wurde, hatte das Ehepaar Schreiber bereits eine achtjährige Tochter und einen sechsjährigen Sohn. Die Familie lebte in Eimsbüttel, der Vater, von Beruf kaufmännischer Angestellter, war zur Wehrmacht eingezogen.

Doris wurde zu Hause geboren und entwickelte sich "normal", das hieß, sie lief mit einem Jahr allein, sprach viel, war sauber und trocken. Im Februar 1942, mit knapp eineinhalb Jahren, erkrankte sie an einem "Abklatsch von Scharlach", wie es der Arzt nannte. Zwei Monate später erlitt sie erstmals einen von Krämpfen begleiteten Anfall und wurde für kurze Zeit bewusstlos. Die Krämpfe nahmen in der Folgezeit an Häufigkeit und Dauer zu und wurden vom Arzt als "Zahnkrämpfe" gedeutet.

Doris blieb nun in ihrer Entwicklung zurück und verlor auch bereits erworbene Fähigkeiten, weshalb sie im August 1942 in das Universitätskrankenhaus Eppendorf zur gründlichen Untersuchung eingewiesen wurde. Ihr Schädel wurde geröntgt, für weitere Untersuchungen verweigerte ihre Mutter die Einwilligung. Ihr wurde gesagt, Doris sei geistesgestört. Aufgrund dieser Diagnose erhielt der Vater, der zu der Zeit in Dänemark stationiert war, Sonderurlaub. Er brachte Doris wieder nach Hause, wo sie sich erholte, jedoch traten immer wieder Krampfanfälle auf.

Im Februar 1943 suchte die Mutter den renommierten Neurologen Heinrich Pette auf, den früheren Chefarzt der Neurologie am Universitätskrankenhaus Eppendorf. Er machte ihr Mut, dass sich Doris’ Zustand bessern würde. Als das nicht geschah, folgte sie einer Empfehlung, sich an den Leiter des Kinderkrankenhauses Rothenburgsort, Wilhelm Bayer, zu wenden, der ihr riet, Doris in seinem Krankenhaus beobachten zu lassen.

Seit Anfang Juni 1943 schien Doris nicht mehr hören zu können. Die Kinderärztin Anna Bontemps-Schmitz in der Bundesstraße 74 diagnostizierte Doris’ Erkrankung als Folge einer Hirnhautentzündung, vermutlich des vermeintlichen Scharlachs, und wies sie mit der Diagnose "Status nach Encephalitis" – Zustand nach Hirnhautenzündung – in die Klinik ein, wo Doris am 24. Juni 1943, inzwischen knapp drei Jahre alt, aufgenommen wurde. Sie erlitt zu dem Zeitpunkt bis zu 40 Anfälle am Tag.

Ihr Zustand wechselte stark. Zeitweise konnte sie sich allein aufrecht halten, mal lag sie stumm und apathisch im Bett, oder sie gab leise Töne von sich, bewegte sich unruhig und unkontrolliert, manchmal griff sie nach hingehaltenen Gegenständen, manchmal konnte sie sie nicht fixieren. Die Untersuchung der Hirninnenräume durch eine Encephalographie (s. o. Erläuterungen) ergab keine krankhaften Veränderungen, ebenso wenig wie eine Untersuchung des Augenhintergrunds in der Augenklinik St. Georg. Bald darauf schien Doris schwindelig zu werden, wenn sie aufgestellt wurde, und kurze Zeit später stellte sich Fieber ein, für das keine Ursache gefunden wurde.

Die weitgehende Zerstörung des Kinderkrankenhauses Rothenburgsort in der Nacht des 27./28. Juli 1943 beendete Doris’ Beobachtung. Sie wurde mit den fast 300 anderen Kindern noch am 28. Juli nach Wentorf transportiert, wo es jedoch keine dauerhafte Unterbringungsmöglichkeit gab. Doris’ Vater holte sie von dort nach Hause. Sie erkrankte an Masern und blieb ein Vierteljahr lang anfallsfrei, was mit dem mit der Masernerkrankung einhergehenden Fieber erklärt wurde. Als im November 1943 erneut Krämpfe auftraten, drei bis vier Mal am Tag, schlug Bayer eine Malaria-Kur (s. o. Erläuterung) vor, in der Hoffnung, dass die Krämpfe durch das gezielt herbei geführte Fieber wieder zum Verschwinden gebracht werden könnten. Die Kur wurde erst im folgenden Jahr begonnen, weil das Kinderkrankenhaus Rothenburgsort noch nicht wieder hergerichtet und seine Ausweichstätten in Wohldorf von dringenderen Fällen belegt waren.

Am 22. Februar 1944 wurde Doris erneut im Stammhaus in Rothenburgsort aufgenommen, das in beschränktem Umfang seinen Betrieb wieder aufgenommen hatte. Da die Kur keinen nachhaltigen Erfolg hatte und Wilhelm Bayer keine weiteren Behandlungsmöglichkeiten sah, nahm die Mutter ihre Tochter am 13. April 1944 wieder mit nach Hause.

Doch schon am folgenden Tag brachte sie Doris zurück. Sie hatte am Morgen einen lang andauernden schweren Krampf erlitten. Eine eindeutige Ursache dafür fand sich nicht, doch wurde ein Zusammenhang mit der Malaria-Kur nicht ausgeschlossen. In den folgenden Tagen erlitt Doris nur noch einen Anfall, fieberte aber. Ihre Mutter holte sie "gegen Revers" – auf eigenen Wunsch und gegen den Rat des Arztes – nach Hause.

1946 gab sie als Zeugin im Ermittlungsverfahren gegen Bayer an, dass dieser von einer "Gehirntherapie oder Gehirnbestrahlung, die dreimal angewendet werden müsse, als einziger Hilfsmöglichkeit" gesprochen und hinzugefügt habe, dass die Behandlung tödlich ausgehen, aber eventuell auch dem Kinde helfen könne. Weil die Behandlung besonders gefährlich sei, brauche er die Zustimmung der "Reichsärztekammer" und die Einwilligung der Eltern. Damit die Mutter sich mit dem Vater, der sich in Dänemark im Einsatz befand, abstimmen konnte, setzte Bayer ein Gesuch um Sonderurlaub für diesen auf, dem stattgegeben wurde. Danach meldete Bayer Doris beim "Reichsausschuss".

Nachdem dessen Genehmigung zur "Behandlung" eingetroffen war, brachte die Mutter Doris am 18. Juli 1944 wieder ins Kinderkrankenhaus Rothenburgsort. Sie berichtete der Stationsärztin Lotte Albers, dass mit dem Kind alles unverändert sei, und blieb mit ihr in der Folgezeit im Gespräch, auch über die "Bestrahlungen", womit vermutlich die dann vorgenommene Myelographie (s. o. Erläuterung) und die Kontrolluntersuchungen gemeint waren. Das Myelogramm ergab keine krankhaften Veränderungen, doch trug Doris eine Blasenlähmung und Einschränkungen ihrer Beweglichkeit davon.

War sie bis dahin ein agiles Mädchen gewesen, wurde sie nun matter, teilnahmsloser, stiller und konnte sich nicht mehr aufstellen. Sie musste täglich zehn und mehr Stunden im Luftschutzkeller bzw. im Bunker verbringen, wo sie nur einmal einen Krampf erlitt, tagsüber war sie im Garten. Als ihre Mutter sie dort am Mittwoch, den 16. August, besuchte, lag sie apathisch und ohne sie zu erkennen da. Am folgenden Besuchstag, Sonntag, den 20. August 1944, kam die Mutter in Begleitung ihrer Schwester und fand Doris bewusstlos vor. Sie starb an diesem Tag um 17.30 Uhr. Wann genau ihr die Stationsärztin, Lotte Albers, assistiert von der Stationsschwester Martha Müller, die tödliche Luminal-Injektion gab, ließ sich nicht feststellen.

Die Mutter zeigte den Tod ihrer Tochter aufgrund von "cerebraler Anomalie, Krämpfe" beim seit dem "Feuersturm" auch für Rothenburgsort zuständigen Standesamt in Billstedt an.

Doris Schreiber wurde nicht ganz vier Jahre alt.

© Hildegard Thevs

Quellen: StaH 213-12 Staatsanwaltschaft Landgericht – NSG, 0017/001, 002; 332-5 Standesämter, 1237+135/1944; 352-8/7 Staatskrankenanstalt Langenhorn, Abl. 2000/01, 63 UA 11.

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