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Bereits verlegte Stolpersteine



Pincus Hirsch
© Yad Vashem

Pincus Hirsch * 1861

Kielortallee 16 (Eimsbüttel, Eimsbüttel)


HIER WOHNTE
PINCUS HIRSCH
JG. 1861
DEPORTIERT 1942
THERESIENSTADT
1942 TREBLINKA
ERMORDET

Weitere Stolpersteine in Kielortallee 16:
Adele Hirsch, Helene Rosenbaum

Pincus Hirsch, geb. am 7.7.1861 in Hamburg, deportiert am 15.7.1942 nach Theresienstadt, weiterdeportiert am 21.9.1942 nach Treblinka
Adele Hirsch, geb. Nussbaum, geb. am 30.8.1875 in Hamburg, deportiert am 15.7.1942 nach Theresienstadt, weiterdeportiert am 21.9.1942 nach Treblinka

Kielortallee 16

Pincus Paul Hirsch wurde 1861 in Hamburg in eine gut situierte religiöse jüdische Familie hineingeboren, die mindestens in dritter Generation in Hamburg ansässig war.

Kurz vor seinem 18. Geburtstag, am 1. Juni 1879, trat er in die M. M. Warburg-Bank ein. In Familienstammbäumen, die sein Sohn später anlegte, lauten die Berufsbezeichnungen Kaufmann, Bankkaufmann und Prokurist; die Kultussteuerkartei verzeichnet ihn als Buchhalter, in den Adressbüchern der 1930er Jahre kommt er als Kaufmann vor. Pincus Hirsch blieb der Warburg-Bank während seines gesamten Berufslebens und sogar darüber hinaus verbunden. Anlässlich des 125. Firmenjubiläums 1923 würdigte ihn die Bank als dienstältesten Mitarbeiter, der schon damals auf 44 Jahre Betriebszugehörigkeit zurückblicken konnte. Noch 1928 stand für ihn ein eigener Schreibtisch in der Abteilung Kundenkreditkontrolle zur Verfügung. Am 1. November 1903 hatte Pincus Hirsch geheiratet. Die 1875 ebenfalls in Hamburg geborene Adele Nussbaum entstammte einer angesehenen Rabbinerfamilie. Ihr Urgroßvater mütterlicherseits, Rabbiner Jecheskel Joelson, der sich in Altona niedergelassen hatte, gehörte kurzzeitig zu den Vorgängern des Altonaer Rabbiners Ettlinger. Andere Vorfahren Adele Hirsch’ aus Hessen lebten seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Hamburg.

Pincus und Adele Hirsch hatten einen Sohn. Siegfried Süsskind Hirsch wurde am 2.9.1904 in Hamburg geboren. Er besuchte die Talmud Tora Schule, wo er von Joseph Carlebach, dem Leiter der Schule und späteren Rabbiner von Altona und Oberrabbiner von Hamburg geprägt wurde. Siegfried Hirsch gehörte den religiösen Jugendgruppen Hashomer Hadati und Ezra und dem Bar Kochba Sportverein an. Er absolvierte eine Ausbildung im Metallhandel und war bei der Firma Tobias Feinstein am Gänsemarkt 33 angestellt. Er machte sich (1935/36) mit Dental-Artikeln selbstständig und belieferte Zahnärzte mit Ausstattung, Medikamenten und anderem Bedarf. Seine Geschäftsadresse lautete Kielortallee 16. Unter dieser Anschrift lebten seit Jahren auch seine Eltern, mit denen er zusammenwohnte.

Als Firmeninhaber gehörte Siegfried Hirsch zu den jüdischen Männern, die anlässlich des Pogroms am 10. November 1938 durch die Gestapo verhaftet und ins KZ Sachsenhausen eingewiesen wurden. Am 24. Dezember 1938 erfolgte seine Entlassung, verbunden mit der Auflage, so schnell wie möglich auszuwandern. Das geschah drei Monate später, am 28. März 1939. Nach einem Zwischenaufenthalt bei einem Cousin in Amsterdam erreichte er am 3. April 1939 London, wo er zunächst bei alten Hamburger Freunden unterkam.

Hier musste er sich an andere – einfachere – Lebensumstände gewöhnen. Fehlender Wohnkomfort, knappe Geldmittel und geringe Sprachkenntnisse beeinträchtigten ihn ebenso wie der Status eines Flüchtlings, der keiner bezahlten Arbeit nachgehen durfte.

Zudem litt er unter der Trennung von den Eltern. Kontakt bestand nur noch postalisch, über Briefe und Postkarten – abgesehen von wenigen kurzen Telefonaten. Die Briefe, die Adele und Pincus Hirsch bis zur Kriegserklärung an ihren Sohn nach England schrieben, sind er­halten geblieben. Der erste Brief datiert vom 31. März, der letzte vom 6. Septem­ber 1939. Die elterliche Korrespondenz umfasst insgesamt 30 Briefe und 18 Post­karten. Aus den Briefen sprechen Liebe, Anteilnahme und Fürsorglichkeit, die Eltern versuchten ihrem Sohn Mut und Zuversicht zu vermitteln, doch verbargen sich dahinter zwangsläufig auch Sorgen um seine Zukunft. Sie gaben Ratschläge und versuchten Verbindungen zu Hamburger Emigranten in London zu vermitteln. Doch mit fortschreitender Korrespondenz formulierten die Eltern, besonders die Mutter, ihre Trauer über die Trennung. Denn es zeichnete sich ab, dass es immer unwahrscheinlicher wurde, die Eltern nach­­kommen zu lassen, wenn möglich sogar in die USA, wo bereits Verwandte lebten. Der Brief vom 20. Juni 1939 verdeutlichte die Situation. Adele Hirsch schrieb: "Wegen der Wartenummer, habe ich gleich an Tante Else telefoniert, habe aber bis heute noch keine Formulare erhalten. Wenn ich daran denke, dass wir uns nicht wiedersehen sollen, bis Du uns einmal von Amerika anfordern kannst, könnte ich verzweifeln, hoffentlich glückt es auf andere Weise." Drei Tage später teilte sie mit: "Das Formular an das Konsulat ist abgeschickt, die Nummer wird ja nicht gerade sehr niedrig sein. Ich glaube, sie sind schon bei 19.000." Und eine Woche später hieß es: "Ich vergaß übrigens Dir im vorigen Brief mitzuteilen, dass wir schon vom amerikanischen Konsulat Antwort bekommen (haben) und zwar die Nummern 17.333 und 34 und dass wir in unabsehbarer Zeit an die Reihe kämen, mit G’ttes Hilfe werden wir hoffentlich nicht unabsehbar auf ein Wiedersehen warten müssen." Der Druck auf den Sohn war unter diesen Umständen enorm. Er bekam kurz vor Kriegsbeginn den Rat, sich persönlich an Max Warburg zu wenden, der sich noch in London aufhielt, aber wenig später in die USA ausreiste. So fragte Adele Hirsch am 31. August: "Hältst Du es für richtig, dass Papa, wenn alles ruhig bleibt, einmal selbst an M. W. schreibt. Es kommen ja außer uns nur ganz verschwindend wenig Leute noch in Frage, da die meisten nicht mehr hier sind."

Obwohl vieles in den Briefen offen dargelegt wurde, dürften sich die Eltern in ihren Formulierungen eingeschränkt haben: um den Sohn nicht unnötig zu beunruhigen und um die Postzensur durch die Gestapo zu umgehen. So finden sich in den Briefen nur zwischen den Zeilen Hinweise auf die zunehmende alltägliche Entrechtung der jüdischen Bevölkerung. Am 9. Mai 1939 hieß es: "Du hast wohl schon gehört, dass wir vielleicht in absehbarer Zeit ausziehen müssen, Du kannst Dir denken wie schrecklich der Gedanke für mich ist ... Nun hoffentlich kommt es noch nicht so bald." Adele Hirsch bezog sich auf das Gesetz, das die Wohnverhältnisse neu regelte. Jüdische Einwohner mussten künftig abgesondert in "Judenhäusern" Quartier nehmen.

Im Sommer verbrachten die Eheleute einige Wochen im früheren Kinderheim "Wilhelminenhöhe" an der Rissener Landstraße 127, nun eines der Hachschara-Ausbildungszentren zur Berufsumschichtung für junge Juden, die sich auf die Auswanderung nach Palästina vorbereiteten. Sie erlebten den Aufenthalt als relativen Freiraum, den sie genießen konnten. Nach ihrer Rückkehr in die eigenen vier Wände wurde ihnen ihr eingeschränkter Bewegungsradius besonders bewusst: "Wir sind jetzt nur auf unseren Balkon angewiesen, es war gut, dass wir in Wilhelminenhöhe so viel an der Luft sein konnten", schrieb Adele Mitte Juli.

Mit fortschreitender Korrespondenz wurde die Atmosphäre für die Eltern immer beklemmender. In fast jedem Brief erwähnten sie Verwandte oder Bekannte, die vor ihrer Auswanderung standen oder die sie schon verabschiedet hatten. Ein Exodus ohnegleichen ließ die Zurückgelassenen zunehmend vereinsamen. Über eine Verwandte hieß es: "Jetzt ist sie wohl gerade auf dem Schiff, ich habe sie nur noch telefonisch gestern Abend gesprochen, der Abschied tat mir wieder sehr weh, so geht ein lieber Mensch nach dem anderen, und man bleibt einsam zurück."

Ein paar Monate später schrieb Adele Hirsch: "Es tut mir sehr leid, dass Du über mein Schreiben niedergeschlagen warst, Du kennst mich doch, ich kann häufig nicht gegen meine Stimmung an und mit wem soll ich mich dann aussprechen, wenn nicht mit Dir. Du kannst es mir wohl nachfühlen, dass ich traurig bin, wenn nach Dir nun auch Geschwister und alle guten Freunde … fortgehen, man wird so einsam und hat zu viel Zeit zum Nachdenken. Aber ich will mich zusammennehmen und immer daran denken, mich gesund zu erhalten und den Allmächt’gen bitten, dass er uns beisteht, und uns recht bald in Freuden wieder zusammenführt."

Pincus Hirsch’ Tagesablauf war durch religiöse Gebote und Besuche in der Synagoge strukturiert. Zudem arbeitete er ehrenamtlich in der Vereinigten Alte und Neue Klaus in der Straße Rutschbahn und konnte vermutlich seine Berufserfahrungen bei der Warburg-Bank einbringen. Die Congregation verlieh ihm den Ehrentitel Chaver (Gefährte), den bereits sein Vater geführt hatte.

Während für Adele Hirsch die Zusammenführung mit dem Sohn im Vordergrund stand, dachte Pincus Hirsch über einen Weg nach, die Integration des Sohnes in England zu forcieren. Dem Dank für seine Geburtstagsgeschenke fügte er hinzu: "Nun hätte ich gern noch eine fromme, nette Schwiegertochter bei den Geschenken aufgezählt, aber damit muss ich mich wohl noch etwas gedulden, hoffentlich nicht zu lang. Bei der Schwierigkeit, mit der es in England verbunden ist, Arbeitserlaubnis zu erhalten, ist es vielleicht der einzige Weg durch Einheirat in ein schon bestehendes Geschäft dieses schneller zu erreichen." Der Gedanke einer Vermählung ließ ihn nicht mehr los, ein paar Wochen später riet er seinem Sohn: "Ich würde auch einmal eine Annonce wegen Einheirat im Jewish Chronicle machen, vielleicht kommt das Glück auch mal zu Dir. Wenn man hier die Annonce aufgeben kann, ist es vielleicht zu machen."

Hin und wieder wurde Siegfried Hirsch an sein erfolgreiches früheres Leben in Hamburg erinnert und gleichzeitig an seine Situation als Ausgestoßener. Seine Mutter schrieb am 27. Juni: "Von der Gewerbepolizei war ein sehr netter Herr persönlich bei uns, derselbe wollte Dein Büro sehen, ob nicht mehr darin ist, als er es als Schlafzimmer eingerichtet sah, lachte er und war beruhigt ... Übrigens stand auch Deine Firma bereits von Amtswegen gelöscht in der Zeitung."

Inzwischen hatte sich die Aussicht auf eine Familienzusammenführung weiter verschlechtert. Der letzte Brief vom 6. September 1939 spiegelt die deprimierende Situation wider, als Adele Hirsch schrieb: "Ich habe so das Gefühl, … als fehle Dir der Mut zum Schreiben, oder irre ich mich, es wäre natürlich nicht recht von Dir, Du musst den Kopf oben behalten und auf G’tt vertrauen, er wird Dir schon seine Hilfe zuteilwerden lassen. Du weißt doch, dass meine Gedanken immer bei Dir sind und wie wir uns freuen, wenn wir an allem, was Dich angeht teilnehmen können, das geht aber nur, wenn du uns immer ausführlich schreibst."

Doch dazu sollte es vorerst nicht mehr kommen. Durch den Kriegsausbruch und die Kriegserklärung Englands an Deutschland musste der Briefverkehr zwischen beiden Ländern eingestellt werden.

Im Mai 1940 wurde Siegfried Hirsch – wie zahlreiche Emigranten aus Deutschland – als so genannter feindlicher Ausländer in England interniert und nach Australien deportiert. Während dieser Zeit stand er mit einem in die USA ausgewanderten Cousin in Briefkontakt, der wiederum Briefe von Siegfrieds Eltern aus Hamburg erhielt und ihm den Inhalt zusammengefasst mitteilte oder ihm die Briefe zusandte. Etliche Briefe blieben so er­halten. Den letzten Brief an seine Eltern schrieb Siegfried Hirsch am 26. Juni 1942. Dieser und zwei weitere Schreiben wurden im Oktober 1942 von der Hamburger Post als unzustellbar an den Absender zurückgeschickt.

Pincus und Adele Hirsch hatten inzwischen ihre Wohnung in der Kielortallee auf Anweisung der Gestapo räumen müssen und waren in der Sedanstraße 23 untergekommen. Dort, im früheren Altenhaus der Deutsch-Israelitischen Gemeinde, das nun als "Judenhaus" fungierte, erhielten sie die Deportationsbefehle. Am 15. Juli 1942 wurden sie nach Theresienstadt deportiert, zusammen mit zahlreichen anderen Familienmitgliedern aus Hamburg. An Yom Kippur 1942, dem 21. September, mussten sie den Zug nach Treblinka besteigen, wo sie er­mordet wurden.

Etwa einen Monat später, im Oktober 1942, konnte Siegfried Hirsch von Australien nach England zurückkehren.

Vorerst ging er nun wieder seinen früheren Aktivitäten in der Adath Yisroel Synagoge in London nach, wo er sich um den Jugend- und Kulturbereich kümmerte. Nachdem er eine Arbeitserlaubnis erhalten hatte, nahm er eine Tätigkeit im Metallhandel auf. Sein Arbeitgeber war ein Emigrant aus Ungarn. Siegfried Hirsch blieb bei der Firma bis zu seinem Ruhestand, etwa 1970.

1947 hatte er Rosalind Landau geheiratet, die Tochter einer bekannten jüdischen Familie in London. Sie war eine Enkelin des Wandsbeker Rabbiners David Hanover. Die Eheleute bekamen eine Tochter, die sie in Erinnerung an ihre Großmutter Adele nannten. Inzwischen hatte Siegfried Hirsch zusammen mit der Familie seiner Cousine Erna Sussman, geb. Hirsch, ein Haus im Londoner Stadtteil Hendon erworben und war Mitglied der dortigen Synagoge geworden. Als die Hendon-Congregation den Bau einer neuen Synagoge plante, wurde er Mitglied im Bau-Komitee und später im Vorstand der Synagoge. Er schloss Freundschaft mit dem Rabbiner Mordechai Knoblowicz, der einst von Joseph Carlebach nach Hamburg geholt worden war und sich mit der Tradition der Hamburger Gemeinde auskannte. Siegfried Hirsch blieb dem Judentum zeitlebens verbunden und engagierte sich in vielen kommunalen Komitees. Mit der Gründung des Staates Israel 1948 erwachte sein Interesse für die Mizrachi-Bewegung, die einen religiös geprägten Zionismus vertrat.

Siegfried Hirsch war auch jahrelang als Delegierter in der obersten Körperschaft des Britischen Judentums tätig, u. a. als Mitglied des Schächt-Kommitees. Er widmete sich der Hendon Adath Yisroel Congregation und während eines Zeitraumes von vierzig Jahren hatte er quasi jedes Amt schon einmal ausgeübt.

1985 verlieh ihm die Congregation den Ehrentitel HeChaver (Gefährte), damit folgte er seinem Vater und Großvater nach, die diese Auszeichnung seinerzeit in Hamburg erhalten hatten.

Siegfried Hirsch hat zeitlebens darunter gelitten, seinen Eltern die Auswanderung aus Deutschland nicht ermöglicht zu haben. Sie waren 1951 auf den 8. Mai 1945 für tot erklärt worden. Siegfried Hirsch starb am 13. Februar 1990.

(Dieser Text basiert auf dem [englischsprachigen] Manuskript von Prof. Max Sussman, einem Großcousin von Siegfried Hirsch.)

© Max Sussman / Astrid Louven

Quellen: 1; AB 1932 IV S. 295 und 490; AB 1936 II, S. 320 und 493; AB 1936 III, S. 1586; AB 1936 IV, S. 486; Adele und Pincus Hirsch, Briefe an Siegfried Hirsch vom 31.3.–6.9.1939; Max Sussman, Genealogische Aufzeichnungen über Pincus, Adele und Siegfried Hirsch (unveröffentlichtes englischsprachiges Manuskript 2012, übersetzt von Astrid Louven); Eduard Duckesz, Chachme AHW, Hamburg, 1908, S. 48–49; Wilhelm Mosel, Wegweiser zu ehemaligen jüdischen Stätten Hamburgs, Heft 2, S. 72–77.

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