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Bereits verlegte Stolpersteine



Betty Berges * 1890

Rutschbahn 24 (Eimsbüttel, Rotherbaum)


HIER WOHNTE
BETTY BERGES
JG. 1890
EINGEWIESEN 1935
HEILANSTALT LANGENHORN
"VERLEGT" 23.9.1940
BRANDENBURG
ERMORDET 23.9.1940
"AKTION T4"

Weitere Stolpersteine in Rutschbahn 24:
Marcus Elias

Betty Berges, geb. 27.4.1890 in Lübeck, ermordet am 23.9.1940 in der Tötungsanstalt Brandenburg an der Havel

Rutschbahn 24

Betty Berges stammte aus einer weit verzweigten, alteingesessenen jüdischen Familie in Lübeck-Moisling. Sie kam am 27. April 1890 in der Lübecker Altstadt, Aegidienstraße 9, als Tochter von Simon Selig (Siegfried) Berges und seiner Ehefrau Bertha, geborene Lissauer, zur Welt.

Betty Berges’ 1848 in Moisling geborener Vater lebte in Lübeck und arbeitete dort als Buchbinder. 1872 heiratete er in erster Ehe in Ohlau/Schlesien die sich zum christlichen Glauben bekennende Schneiderin Johanna Christina Lucie Fick. Nach kurzem Aufenthalt in Ohlau übersiedelte das Ehepaar Berges nach Lübeck. 1875 war Simon Selig wieder in Lübeck tätig. Aus der Ehe gingen vier Töchter hervor: Lucie, Auguste Anna Helene Martha, Hannchen und Charlotte. Vermutlich verlegte Simon Selig Berges den Wohnsitz seiner Familie zeitweise nach Hamburg, denn hier wurde seine erste Ehe geschieden.

Am 15. März 1882 verheiratete sich Simon Selig Berges erneut. Mit seiner zweiten Ehefrau, der am 28. Mai 1857 in Lübeck-Moisling geborenen, ebenfalls aus einer jüdischen Familie stammenden Bertha (Bräunchen) Lissauer bekam er fünf Kinder, darunter Betty als zweitjüngstes. Neben den Halbgeschwistern aus der ersten Ehe ihres Vaters hatte Betty Berges zwei Schwestern und zwei Brüder: Cäcilie, geboren am 30. November 1883, Charlotte, geboren am 6. Mai 1886, Heymann Friedrich, geboren am 1. Januar 1888, und Selig (genannt Semmy), geboren am 4. August 1891, alle geboren in Lübeck.

Betty’s Vater Simon Selig bezeichnete sich als Handelsmann, Handlungsreisender und als Geschäftsreisender. 1903 erlangte er die Staatsangehörigkeit der Hansestadt Lübeck. Die Bindung an Lübeck hinderte ihn aber nicht daran, 1906 dauerhaft nach Hamburg überzusiedeln. Das Hamburger Adressbuch führt Simon Selig Berges in seiner Ausgabe von 1907 als Siegfried Berges mit einem Antiquitätenhandel in der Straße Rutschbahn 8. Die Geschäftsadressen und verbunden damit auch die Wohnadressen änderten sich: 1909 Bornstraße 34, 1911 Fehlandtstraße 21, ab 1912 gemeinsam mit seinem Sohn Selig jr. (Semmy) Rutschbahn 24. Hier starb am 5. Juli 1915 Simon Seligs zweite Ehefrau Bertha (Bräunchen), Bettys Mutter, im Alter von 58 Jahren. Vater und Sohn Berges betrieben den Antiquitätenhandel weiterhin gemeinsam. Sie verlegten ihn 1919 in die Grindelallee 45. Im vorgeschrittenen Alter von 67 Jahren zog sich Simon Selig Berges Sen. 1925 aus dem Geschäftsleben zurück. Ihm blieb nur eine kurze Phase des Ruhestandes, denn er starb am 25. April 1926.

Betty Berges blieb ledig und war wohl zeitweise als "Kinderfräulein" tätig. Als sie 1915 aus uns nicht bekannten Gründen in der "Irrenanstalt Friedrichsberg” aufgenommen wurde, hielt man dort als Beruf "Stütze" (Haushaltshilfe) fest. Von hier wurde sie am 18. Oktober 1915 in die "Irrenanstalt Langenhorn” verlegt und Ende Februar 1916 wieder entlassen. Über die Zeit von 1916 bis 1925 ist nur bekannt, dass sie bei den Eltern bzw. nach dem Tod der Mutter bei ihrem Vater in der Rutschbahn 24 lebte. Im Juni 1925 kam Betty Berges aufgrund eines Attestes aus Friedrichsberg, das die Diagnose "Geisteskrankheit" enthielt, wieder in die Langenhorner Anstalt. Als nächste Angehörige wurde ihre Schwester Cäcilie notiert.

Für die nächsten 13 Jahre blieb Betty Berges in der inzwischen in "Staatskrankenanstalt Langenhorn" umbenannten Einrichtung. 1938 mussten viele Frauen und Männer Langenhorn verlassen, um Platz für Patientinnen und Patienten aus der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg zu schaffen. Friedrichsberg sollte nach dem Friedrichsberg-Langenhorn-Plan "solchen Volksgenossen [...], die einen geistigen und körperlichen Gewinn von einem Aufenthalt in diesen schönen Anlagen haben würden", vorbehalten werden.

Die aus Langenhorn abtransportierten Frauen und Männer fanden Aufnahme in verschiedenen norddeutschen Einrichtungen. So kam Betty Berges in die Heilanstalt Lübeck-Strecknitz. Ihre polizeiliche Anmeldung in Lübeck datiert vom 9. Mai 1938.

Mochte die Familie Berges durch den Antiquitätenhandel ein auskömmliches Leben geführt haben, so verarmte sie nach 1933 infolge der Diskriminierung durch den NS-Staat zusehends. Die Pflegekosten in Langenhorn und in Lübeck übernahm die Hamburger Sozialverwaltung.

Bei ihrer Ankunft in Strecknitz nahm man Betty Berges ein Kleid und ein Gebiss ab. Mehr besaß sie nicht.

Mit dem auf den 1. September 1939 zurückdatierten Erlass Adolf Hitlers, nach dem "nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann", begann ein beispielloses Mordprogramm, dem mehrere Hunderttausend geistig- und körperlich behinderte Mensch zum Opfer fielen. Nur diejenigen, die als Arbeitskräfte eingesetzt werden konnten, hatten eine geringe Überlebenschance. Diese Einschränkung galt nicht für Jüdinnen und Juden. Im Sommer 1940 plante die "Euthanasie"-Zentrale in Berlin, Tiergartenstraße 4, eine Sonderaktion gegen Juden in öffentlichen und privaten Heil- und Pflegeanstalten. Sie ließ die in den Anstalten lebenden jüdischen Menschen erfassen und in sogenannten Sammelanstalten zusammen ziehen. Die Heil- und Pflegeanstalt Hamburg-Langenhorn wurde zur norddeutschen Sammelanstalt bestimmt. Alle Einrichtungen in Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg erhielten Anweisung, die in ihren Anstalten lebenden Juden bis zum 18. September 1940 dorthin zu verlegen.

Betty Berges traf am 16. September 1940 in Langenhorn ein. Am 23. September wurde sie mit weiteren 135 Patienten aus norddeutschen Anstalten im Güterbahnhof Ochsenzoll in einen Zug verladen und über Berlin nach Brandenburg an der Havel transportiert. Der Transport erreichte die märkische Stadt noch an demselben Tag. In dem zur Gasmordanstalt umgebauten Teil des in der Stadtmitte gelegenen ehemaligen Zuchthauses trieb man die Patienten umgehend in Gaskammern und tötete sie mit Kohlenmonoxyd. Nur Ilse Herta Zachmann entkam zunächst diesem Schicksal (siehe dort).

Auf dem Geburtsregistereintrag von Betty Berges wurde notiert, dass das Standesamt Chelm II ihren Tod unter der Nummer 487/1941 registriert hat. Die in Brandenburg Ermordeten waren jedoch nie in Chelm (polnisch) oder Cholm (deutsch), einer Stadt östlich von Lublin. Die dort früher existierende polnische Heilanstalt bestand nicht mehr, nachdem SS-Einheiten am 12. Januar 1940 fast alle Patienten ermordet hatten. Auch gab es in Chelm kein deutsches Standesamt. Dessen Erfindung und die Verwendung späterer als der tatsächlichen Sterbedaten dienten dazu, die Mordaktion zu verschleiern und zugleich entsprechend länger Verpflegungskosten einfordern zu können.

Über Betty Berges’ Geschwister kann folgendes berichtet werden:

Cäcilie Berges, verwitwete Weil, lebte seit 1900 in Hamburg. Die Klavierlehrerin heiratete 1912 in Berlin den 1876 in Wersch bei Aachen geborenen Kaufmann Adolf Weil. Die Ehe dauerte nur vier Jahre. Adolf Weil verstarb im Mai 1916 in der "Irrenanstalt Friedrichsberg". Wenige Jahre später verlobte sich Cäcilie Berges mit dem 1876 geborenen Restaurateur Heinrich Pohlmann, erschien dann aber nicht zum vereinbarten Hochzeitstermin. Ihr weiteres Schicksal ist nicht bekannt.

Charlotte Berges, verheiratete Meyersohn, siedelte 1904 im Alter von 18 Jahren nach Bremen über. Sie heiratete etwa 1907/1908 den am 23. Juni 1883 in Schwerin geborenen Arthur Meyersohn. Die Meyersons hatten vier Kinder, das jüngste, Robert, wurde 1911 geboren. 1919 lebte die Familie in Rostock, wie sich aus der damaligen Volkszählung ergibt. Die Familie Meyersohn flüchtete schließlich aus Deutschland und lebte 1944 in Shanghai. Anfang 1947 reiste sie in die USA. Charlotte Meyersohn erhielt die amerikanische Staatsbürgerschaft. Sie verstarb in San Francisco.

Heymann Friedrich Berges heiratete 1914 in Hamburg die 1890 in Amsterdam geborene Sara Presser. Das Ehepaar hatte vier Kinder, Salomon, Bertha Bräunchen, Marianne und Charlotte. Die Familie verließ Deutschland Ende 1938 mit dem Ziel Argentinien.

Selig (Semmy) Berges Jr., Betty Berges jüngster Bruder, betrieb den von seinem Vater übernommenen Antiquitätenhandel weiter, ab 1935/1936 am Gänsemarkt 30/31. Ab 1937 veränderte er das Geschäftsfeld und handelte bis etwa 1938 mit Teppichen. Sein weiteres Schicksal ist nicht bekannt.

Während der Volkszählung im Mai 1939 wohnte niemand jüdischer Herkunft mit dem Namen Berges mehr in Hamburg.


Stand: November 2018
© Ingo Wille

Quellen: 1; 4; 5; 9; AB; StaH 133-1 III Staatsarchiv III, 3171-2/4 U.A. 4, Liste psychisch kranker jüdischer Patientinnen und Patienten der psychiatrischen Anstalt Langenhorn, die aufgrund nationalsozialistischer "Euthanasie"-Maßnahmen ermordet wurden, zusammengestellt von Peter von Rönn, Hamburg (Projektgruppe zur Erforschung des Schicksals psychisch Kranker in Langenhorn); 332-5 Standesämter 8025 Sterberegister Nr. 492/1915 Bertha (Bräunchen) Berges, 6849 Sterberegister Nr. 517/1902 Christina Lucie Berges, 8085 Sterberegister Nr. 178/1926 Simon Selig Berges, 352-8/7 Staatskrankenanstalt Langenhorn Abl. 1/1995 Aufnahme-/Abgangsbuch Langenhorn 26.1.39–23.9.40; UKE/IGEM, Archiv, Patienten-Karteikarte Betty Berges der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg; IMGF Lübeck, Patientenakte Betty Berges; Stadtarchiv Lübeck I 643/1890 Geburtsregister Betty Berges; Nr. 171/1883 Geburtsregister Cäcilie Berges; JSHD Forschungsgruppe "Juden in Schleswig-Holstein" an der Universität Flensburg, Datenpool (Erich Koch). Wunder, Michael, Die Auflösung von Friedrichsberg – Hintergründe und Folgen, in: Hamburger Ärzteblatt (HÄB) (1990) 4, S. 128–131.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

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