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Bereits verlegte Stolpersteine



Hermann Seidner * 1906

Deichstraße 3 (Hamburg-Mitte, Hamburg-Altstadt)


HIER WOHNTE
HERMANN SEIDNER
JG. 1906
"POLENAKTION" 1938
BENTSCHEN / ZBASZYN
INTERNIERT
BENTSCHEN / ZBASZYN
GHETTO WARSCHAU
ERMORDET

Weitere Stolpersteine in Deichstraße 3:
Eva Maria Seidner

Hermann Seidner, geboren am 15.1.1906, in der "Polenaktion" am 28.10.1938 nach Bentschen/Zbaszyn abgeschoben, ermordet im besetzten Polen

Eva Maria Seidner, geb. Hoenicke, gesch. Radlow, geboren am 23.2.1908, in der "Polenaktion" am 28.10.1938 nach Bentschen/Zbaszyn abgeschoben, überlebt

Deichstraße 3 Altstadt

Hermann Seidner wurde als drittes von sechs Kindern der jüdischen Eheleute Alter Albert Ursio (Aron) Seidner und Rosa, geb. Felsen, am 15.1.1906 in Hamburg geboren. Wie seine Geschwister galt er nach seinem Vater als polnischer Staatsangehöriger. Wir wissen nichts über die Kindheit von Hermann Seidner. Er heiratete in Hamburg am 17. Mai 1934 Eva Maria, geb. Hoenicke.

Sie war am 23.2.1908 als Kind der evangelischen Eltern Eduard August Christian Hermann Hoenicke und seiner Frau Franziska Agnes Auguste, geb. Meyer, in Hamburg in der Rosenallee 3 in Hammerbrook geboren worden. Sie hatte eine Schwester Johanna Hoenicke, die am 20.6.1900 in Hamburg zur Welt gekommen war.

Eva Maria Hoenicke arbeitete in Hamburg als Stenotypistin.

Die Nationalsozialisten hatten am 15. September 1935 das "Blutschutzgesetz" erlassen, das Eheschließungen (und den außerehelichen Geschlechtsverkehr) zwischen Juden und Nichtjuden verbot. Da Hermann und Eva Maria Seidner bereits zuvor geheiratet hatten, waren sie davon nicht betroffen. In der nationalsozialistischen Terminologie lebten sie in einer "nichtprivilegierten" Mischehe.

Hermann Seidner führte mit seinem Vater Alter Seidner zusammen von 1932 bis 1934 ein Schreibmaschinengeschäft an der Holzbrücke 5/Altstadt. Alter Seidner verstarb am 27. Januar 1935 in Hamburg. Er wurde auf dem Jüdischen Friedhof IIandkoppel beigesetzt. Nach seinem Tod übernahm Hermann Seidner das Geschäft als alleiniger Inhaber und verlegte es an den Neuen Wall 55-57 in der Neustadt. Eva Maria Seidner erledigte die Buchhaltung und die Bürotätigkeiten.

Am 28. Oktober 1938 wurden die Eheleute Seidner als polnische Staatsangehörige nach Bentschen/ Zbaszyn an der polnischen Grenze abgeschoben.
Der Hintergrund: Am 31. März 1938 war in Polen ein Gesetz verabschiedetet worden, das allen polnischen Staatsangehörigen, die länger als fünf Jahre durchgehend im Ausland lebten, die Staatsangehörigkeit entzog. Das Gesetz wurde im Oktober 1938 umgesetzt. Die Menschen wurden aufgefordert, sich beim zuständigen Konsulat zu melden, um in ihren Pass einen Kontrollvermerk eintragen zu lassen. Kamen sie dieser Aufforderung nicht nach, so wurde der polnische Pass mit dem 30. Oktober 1938 für ungültig erklärt. Das Deutsche Reich fürchtete, dass tausende Polen als Staatenlose in Deutschland verbleiben würden und schob diese in der "Polenaktion" ab. Da aber Polen den meisten Ankömmlingen die Einreise verweigerte, blieben diese im Niemandsland zwischen den Grenzen hängen und wurden von der örtlichen jüdischen Gemeinde und dann auch von der jüdischen Hilfsorganisation Joint notdürftig untergebracht und versorgt. So erging es auch dem Ehepaar Seidner, das - eigentlich gut situiert – jetzt völlig mittellos in dem Grenzort angekommen war.

Hermann Seidner telegrafierte an Louis Thau Seidner, einen Verwandten, der in den USA lebte, und bat um Geld, das dieser umgehend schickte.

Eva Maria Seidner berichtete nach dem Krieg über die Abschiebung nach Bentschen/ Zbaszyn: "Ich und mein Mann sind von der Gestapo aus Hamburg abgeholt und an die polnische Grenze nach Neu-Bentschen gebracht worden. Dort wurden wir von deutscher Seite über die Grenze gejagt. Die polnischen Grenzbeamten haben uns nicht reingelassen und wir sind stattdessen wieder zurückgetrieben worden. Nachdem wir einige Male zwischen den Grenzbäumen hin und her getrieben worden waren, durften wir schließlich in einem neben der Grenze liegenden Wäldchen für eine kurze Zeit bleiben. Im Anschluss wurden wir von der polnischen Polizei, in einer von einer Mauer umgebenden Anlage genannt Zbaszyn, untergebracht. In dem Lager mussten wir in einem Pferdestall wohnen. Der Radius in dem wir uns bewegen durften, betrug 2 km. Abends wurde das Tor zum Gelände von der polnischen Polizei abgeschlossen. Die Lebensmittel konnten wir nur zu Wucherpreisen von den Polen kaufen. Wir mussten in dem Internierungslager bis September 1939 bleiben und wurden dann unter Bewachung der polnischen Polizei nach Warschau gebracht."

Hermann und Eva Maria Seidner erhielten vom polnischen Konsulat am 14. April 1939 einen Kontrollvermerk in ihrem Pass, der bis zum 9. Juni 1939 gültig war. Sie kehrten einen Tag später, am 15. April 1939, nach Hamburg zurück.

Hermann Seidners Schreibmaschinengeschäft war inzwischen beschlagnahmt worden. Das Ehepaar beantragte ein Visum für die USA. Am 20. Juni 1939 buchten sie - in der Hoffnung rechtzeitig das Visum zu erhalten - zwei Bordkarten bei der Hamburg-Amerika-Linie. Die Kosten für die Überfahrt in die USA mit der Hamburg-Amerika-Linie betrugen 802,50 RM. Von der Oberfinanzdirektion erhielt Hermann Seidner auch die Genehmigung, den Betrag von seinem "Sicherungskonto" für die Überfahrt zu überweisen. Auch weitere 200 RM für Seefrachten durfte er entrichten. Doch die Auswanderung verzögerte sich. Die Pässe wurden nochmal bis zum 9. Juli 1939 verlängert.

Am 21. Juni 1939 stellte Hermann Seidner einen Antrag bei der Oberfinanzdirektion, für seine Schwester Golda Seidner 225 RM von seinem "Sicherungskonto" für ihren Lebensunterhalt freizugeben, was ebenfalls genehmigt wurde.

Auf dem Konto von Hermann Seidner befanden sich 2.638 RM. Er besaß noch weitere Sachwerte wie u. a. ein 1937 gekauftes Auto "Hanomag", Uhren, Gold und Armbänder.

Doch Hermann Seidner musste der Hamburg-Amerika-Linie am 9. Juli 1939 mitteilen, dass sie keine Ausreisegenehmigung für die USA erhalten hatten. Daraufhin stornierte die Schifffahrtsgesellschaft am Tag darauf die Überfahrt für das Ehepaar, das noch 200 RM Stornierungskosten tragen musste.

Das Ehepaar Seidner bekam ein Ausreisevisum, aber nur für Polen. So kaufte Hermann Seidner am 28. Juli 1939 Fahrkarten für sich und seine Frau nach Warschau. Am 2. August 1939 fuhren sie mit der Bahn nach Warschau, wo sie ein Zimmer mieteten und vom Verkauf dessen lebten, was sie in zwölf Koffern mitgebracht hatten, inklusive Schmuck.

Am 1. September 1939 überfiel die deutsche Wehrmacht Polen. Am 1. Oktober 1940 mussten Seidners, wie alle Jüdinnen und Juden, in das bereits im August 1940 auf Plakaten angekündigte Warschauer Getto ziehen. Dort mieteten sie ebenfalls ein Zimmer.

Das Warschauer Getto war von einer hohen Mauer umgeben. Die Ausgänge wurden von der SS bewacht. Alle jüdischen Bewohner, und auch Eva Maria Seidner als Nichtjüdin, mussten die "Juden-Armbinde" tragen. Keiner bekam die Erlaubnis zum Verlassen des Gettos. Wenn jemand es dennoch verließ, erwartete ihn die Todesstrafe. Eva Maria Seidner, so berichtete sie später, hatte es trotzdem manchmal gewagt. Die Wachmänner der SS hätten ein Auge zugedrückt, wenn sie dringend benötigte Lebensmittel oder Hygieneartikel draußen besorgte.

Sie konnte diese Gänge sogar legalisieren: Walter Többens, der Inhaber der Firma Többens, die im Getto Bekleidung und Schuhe für die deutsche Wehrmacht herstellte, beauftragte sie am 1. September 1942 mit Besorgungen außerhalb des Gettos. Zusammen mit einer von der Firma Többens ausgestellten Bescheinigung und ihrer Geburtsurkunde konnte sie sich als Nichtjüdin ausweisen und so das Getto erlaubterweise verlassen. 1943 wohnte sie mit Hermann Seidner im Getto in der Frascati Straße 4 Wohnung 1.

Am 29. Mai 1943 unterschrieb sie einen neuen Arbeitsvertrag für die Tiefbaugesellschaft Schmidt & Münstermann und erhielt einen Dienstausweis mit Gültigkeit bis zum 31. August 1943. Doch dieser kam nicht mehr zum Einsatz, denn am 4. Mai 1943 wurden Eva Maria Seidner und ihr Mann Hermann Seidner mit den letzten anderen noch verbliebenen Insassen aus dem Warschauer Getto geholt. Eva Maria Seidner konnte sich als Nichtjüdin ausweisen. Sie musste zusehen, wie ihr Mann und andere LKW’s bestiegen.

Es ist nicht bekannt, wohin die Lastkraftwagen fuhren und wo und wann Hermann Seidner ermordet wurde. Er wurde 37 Jahre alt.
Eva Maria Seidner hörte nie wieder etwas von ihm.

Eva Maria Seidner selbst stand vom 4. Mai 1943 bis zum 29. Juli 1944 unter Polizeiaufsicht in Warschau. Sie durfte Polen verlassen, als sie unterschrieben hatte, nie wieder dort einzureisen. Bis Februar 1945 hielt sie sich in Frankfurt/ Oder im Versteck auf, dann kehrte sie nach Hamburg zurück.

Eva Maria Seidner erhielt ihre deutsche Staatsangehörigkeit zurück, die sie mit ihrer Heirat zugunsten der polnischen verloren hatte, und wanderte 1945 nach Illinios/USA aus. Um 1960 heiratete sie dort, ihr Name lautete dann Radlow. Die Ehe wurde wenige Jahre später wieder geschieden. Eva Maria Radlow verstarb in den USA.

Auf Wunsch ihrer Verwandten wurde für sie ein Stolperstein in Hamburg verlegt, auf dem ihr Name Seidner lautet.

Zum Schicksal von Mutter und Geschwistern Hermann Seidners:
Hermann Seidners Mutter Rosa wurde ebenfalls am 28. Oktober 1938 nach Bentschen/ Zbaszyn abgeschoben. Sie kam im besetzten Polen um, ein Stolperstein erinnert an sie in der Rappstraße 3 (www.stolpersteine-hamburg.de).

Rosa Reizela, genannt Röschen Seidner (geb. 1.11.1894), flüchtete in die USA, wo sie vermutlich heiratete und Melamed/ Helamed hieß.

Moritz Seidner (geb. 10.9.1896) lebte in Danzig und wurde 1938 gezwungen, die polnische Staatsangehörigkeit aufzugeben und gelangte als Staatenloser nach Mauritius. Von dort konnte er, schwer erkrankt, nach dem 8. Mai 1945 nach Palästina emigrieren. Er erhielt keine Entschädigungszahlungen, da sein Schaden "nicht im Reichsgebiet entstanden" war. Er heiratete am 18. Oktober 1955 Rachel, geb. Becker, geschiedene Selikowit (geb. 12.3.1908). Er verstarb in Israel am 1. November 1959.

Friedrich Seidner (geb. 6.4.1908) heiratete am 9. Februar 1934 Erna Kempler (geb. 27.5.1911). Er flüchtete 1937 in die USA, Erna Seidner gebar in Hamburg den gemeinsamen Sohn Werner am 15.12.1937. Mutter und Sohn wurden am 28. Oktober 1938 nach Bentschen/ Zbaszyn abgeschoben. Sie wurden später in Auschwitz ermordet.

Golda Seidner (geb. 18.4.1911) flüchtete am 31. Dezember 1939 in die USA und heiratete 1942 dort Herbert Abt. Golda Abt besuchte im Rahmen des Besuchsprogramms des Senats am 18. April 1986 für eine Woche Hamburg.

Bernhard Seidner (geb. 6.1.1914) wurde mit der "Polenaktion" am 28. Oktober 1938 nach Bentschen/ Zbaszyn abgeschoben und an einem unbekannten Ort ermordet.

Stand: Juni 2021
© Bärbel Klein

Quellen: StaH, 1; 2; 4; 5; 6; 8; 9; 131-2 II_3290 Korrespondenz; 213-13_16891; 213-13_25611; 213-13_28180; 213-13_32277; 351-11_2917; 351-11_7995; 351-11_9074; 213-13_16891; 351-11_18279; 351-11_26211; 351-11_32277; 351-11_33061; 351-11_33132; 351-11_18279, 351-11_36727; 351-11_33608; 351-11_37190; 351-11_37653; 351-11_39465; 332-5_135/1906; 332-5_519/1908; 332-5_316/1908; 332-5_41/1934; 332-5_33/1935; 351-11_18279; 621-1/86_23; 741-4_K2435; 741-4_K2448; 741-4_K4553; Institut für die Geschichte der deutschen Juden, Notgemeinschaft Nr. 2404; www.geni.com; www.ancestry.de; www.wikipedea.de; Die Abschiebung polnischer Jüdinnen und Juden aus dem Deutschen Reich 1938/1939, in: https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/introduction/ (Einsicht am 6.10.2020).
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

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