Namen, Orte und Biografien suchen


Bereits verlegte Stolpersteine



Mendel Reiss * 1876

Hammer Landstraße 12 (Hamburg-Mitte, Hamm)


HIER WOHNTE
MENDEL REISS
JG. 1876
FLUCHT 1938 HOLLAND
INTERNIERT WESTERBORK
DEPORTIERT 1944
BERGEN-BELSEN
ERMORDET 28.10.1944

Weitere Stolpersteine in Hammer Landstraße 12:
Stefanie Reiss

Menachem Mendel Reiss, geb. 29.7.1876 Lemberg, 1938 Flucht in die Niederlande, 20.6.1943 Lager Westerbork, 15.2.1944 KZ Bergen-Belsen, Tod dort 28.10.1944

Stefanie Reiss, geb. Czaczkes, geb. 5.5.1887 Lemberg, 1938 Flucht in die Niederlande, 20.6.1943 Lager Westerbork, 15.2.1944 KZ Bergen-Belsen, am 10.4.1945 Transport nach Theresienstadt, Tod 23.4.1945 in Tröbitz

Hammer Landstraße 12

Wann genau die Familien Reiss und Czaczkes aus dem k.u.k. Lemberg wegzogen und sich in Altona bzw. Hamburg niederließen, ist nicht bekannt. Aus Lemberg, einer multikulturellen Großstadt in Galizien mit einem großen Bevölkerungsanteil gebildeter assimilierter Juden, brachten sie nicht nur die österreichisch-ungarische Staatsangehörigkeit, sondern auch die Kenntnis mehrerer Sprachen, literarischer und musikalischer Traditionen und kaufmännische Fähigkeiten mit.

Zur Familie Czaczkes gehörten die Eltern Jakob und Rose, geb. Kalt, verw. Halpern, die Tochter Stefanie, geb. 5.5.1887 in Lemberg, ihr älterer Bruder Nathan, geb. 28.12.1885 in Stanislaus/Galizien sowie der jüngere Bruder Zygmund/Siegmund, geb. 24.5.1894 ebenfalls in Lemberg. Nathan Czaczkes wurde praktischer Arzt und lebte mit seiner Ehefrau Ruth, geb. Peine, in der Susannenstraße 43 in Eimsbüttel. Aufgrund eines Senatsbeschlusses vom 24. Juni 1921 trug er von da an den Familiennamen Costa. Sein Bruder Siegmund Czaczkes handelte mit Herrenmodeartikeln und wohnte mit seiner Ehefrau Leonie, geb. Stern, und dem Sohn Gregor, geb. 9.2.1923, zunächst in der Ulmenau 3 in Hamburg-Eilbek, danach in der Andreasstraße 35 in Hamburg-Winterhude.

Stefanie Czaszkes heiratete am 14. Juni 1908 den elf Jahre älteren Menachem Mendel Reiss, der ebenfalls aus Lemberg stammte. Sein Vater Joseph Ber/Beer Reiss/Reis, in dessen verschiedenen Namensschreibungen sich seine Herkunft spiegelt. Er erhielt am 27. Juni 1882 einen Hamburger Meldeschein mit der Adresse 2. Elbstraße 14 (heute: Neanderstraße) in der Neustadt mit der Berufsangabe "Handelsmann" und den Namen der Angehörigen: Ehefrau Rachel, geb. Neuer, geb. 1848, genannt Rosa, Menachem Mendel, geb. 29.7.1876, Isaak, geb. 3.5.1880 und Eleonore, geb. 23.2.1882. Schon bald zog Familie Reiss nach Altona, wo am 28. Oktober 1884 die Tochter Polina/Paula zur Welt kam. Die Namen weiterer Geschwister sind uns nicht bekannt.

Josef Ber Reiss und seine Ehefrau Rachel schlossen sich der Hochdeutschen Israelitengemeinde zu Altona an. Sie gründeten 1889 in der Kirchenstraße 36 das "Kaufhaus Reiss", ein Manufaktur- und Weißwarengeschäft, neben dem sie auch wohnten. Im Alter von 51 Jahren starb Josef Ber Reiss am 20. Mai 1898 und wurde auf dem Gemeindefriedhof am Bornkampsweg beerdigt. Seine Witwe führte das Geschäft fort und verlegte es an den Altonaer Fischmarkt 39-41, wiederum mit einer angeschlossenen Wohnung.

Sohn Mendel besuchte seit dem 6. August 1886 die Israelitische Gemeindeschule in Altona und verließ sie mit dem Abschluss am 1. April 1891. Er strebte eine Karriere als Operntenor an. Nach der Gesangsausbildung trat er in verschiedenen kleinen Opernhäusern wie dem in Bremen auf, beendete dann aber seine Laufbahn, weil er als Ältester seine Mutter zu unterstützen hatte. Dazu musste er jedoch zunächst eine Kaufmannslehre absolvieren. Nach deren Abschluss wurde er 1906 Teilhaber des "Kaufhaus Reiss" und vier Jahre später persönlich haftender Gesellschafter. Als seine Mutter am 31. Dezember 1913 aus dem Geschäft austrat, übernahm er es ganz. Rachel Reiss überlebte ihren Ehemann um beinahe 20 Jahre. Sie starb am 17. April 1917 und wurde ebenfalls auf dem Friedhof Bornkampsweg beigesetzt.

Inzwischen hatte Stefanie Reiss ihr erstes Kind zur Welt gebracht, die Tochter Verona, gen. Vera, geb. 20.6.1909. Ein Jahr später, am 20. Juli 1910, wurde der Sohn Joseph Bernhard geboren. Als Nachkömmling kam Kurt Egon am 28. November 1916 zur Welt.

Noch während des Ersten Weltkrieges verbesserten Mendel und Stefanie Reiss ihre Situation: Zusammen mit einem Kompagnon gründete Mendel Reiss das Herrenmodengeschäft Guttmann & Co. in der Mönckebergstraße 12, Ecke Barkhof, und die Familie zog von der Hafenstraße 3 in eine größere und teurere Wohnung in der Großen Bergstraße 271. Stefanie Reiss übernahm im Geschäft ihres Mannes die Verantwortung für den Verkauf und das Personal und vertrat ihren Mann, wenn er auf Dienstreisen ging. Dank ihrer Kenntnisse des Englischen, Französischen, Polnischen, Italienischen und Russischen hatte sie Zulauf von ausländischer Kundschaft. Obwohl diese Tätigkeiten über die im Bürgerlichen Gesetzbuch vorausgesetzte Mitarbeit von Ehefrauen hinaus gingen und sie die Stelle einer Angestellten voll ausfüllte, wurde sie in den überlieferten Geschäftsdokumenten nicht erwähnt. Für den Haushalt sorgte eine nicht-jüdische Haushälterin, Henny Plate, der eine Haushilfe und eine Kinderfrau zur Seite standen.

Die Kinder besuchten höhere Schulen, Vera das Lyzeum – die Höhere Mädchenschule – in der Allee, die beiden Söhne das Gymnasium in der Königstraße. Alle Drei erhielten Klavierunterricht, Vera besaß darüber hinaus einen eigenen Flügel, auf dem sie stundenlang übte. Im Sommer verbrachte Stefanie Reiss vier Wochen Urlaub mit den Kindern in Timmendorf an der Ostsee.

1928 erwarben Mendel Reiss, seine Ehefrau und die Kinder die deutsche Staatsangehörigkeit. Dazu war der Nachweis seines Militärdienstes nötig. Mendel Reiss hatte im Ersten Weltkrieg als Feldwebel in Albanien gedient. (Bereits zehn Jahre später wurden sie staatenlos, da sie mit der Emigration automatisch ausgebürgert wurden.)

Nachdem das Geschäft noch um einen Zigarrenhandel an der Ecke Spitalerstraße erweitert worden war, beschäftigte das Ehepaar Reiss zeitweise 25 Angestellte, darunter einen eigenen Dekorateur und einen Plakatmaler. Es florierte, und Mendel und Stefanie Reiss konnten sich eine noch größere Wohnung und ein komfortableres Leben leisten. Sie zogen in eine 9-Zimmer-Wohnung in der Museumstraße 25 in Altona, erwarben einen Austro-Daimler und stellten einen Fahrer ein. Im Winter machten sie gemeinsam Urlaub.

Keines der Kinder wollte den Betrieb der Eltern übernehmen, sondern jedes ging den eigenen musischen Neigungen nach. Vera und Egon Preiss studierten Musik, Josef wechselte nach einer anfänglichen kaufmännischen Lehre ebenfalls zur Musik. Egon bereitete sich jahrelang auf eine Karriere als Konzertpianist und Kapellmeister vor und studierte außerdem an der Kunstgewerbeschule Plakatmalerei und Innendekoration.

Als Vera Preiss 1930 heiratete, brach sie ihr Studium ab. Ihr Ehemann, Kurt Philip, war Miteigentümer von Pfandhäusern. Ihre Eltern statteten sie mit einer großzügigen Aussteuer und Mitgift aus und schenkten ihr die Einrichtung einer 4-Zimmer-Wohnung.

Die Weltwirtschaftskrise ging allerdings nicht an der Firma Guttmann & Co. vorüber. Mendel Reiss schloss im Dezember 1931 einen gerichtlichen Vergleich mit seinen Gläubigern, was ihn in seinem Selbstverständnis tief erschütterte. Es gelang ihm nicht, das Geschäft zu halten. Unter Vermittlung seines Schwagers Siegmund Czaczkes ging es auf einen Bekannten über, der letztlich auch den Konkurs nicht verhindern konnte.

Nach einer Zeit der Erholung wurde Mendel Reiss wieder tätig. Die Veränderungen in seinem Leben gingen zunächst nicht auf die Machtübergabe an Hitler zurück, wohl aber die im Leben seines ältesten Sohnes. Joseph Reiss hatte seine Lehre als Textilkaufmann bei Gebr. Robinson, dem prominenten Bekleidungshaus am Neuen Wall, absolviert und dann in der Firma seines Vaters gearbeitet. Seine künstlerischen Interessen hatte er nie aufgegeben, aber er sah in Deutschland keine Zukunft. Er emigrierte 1933 nach Belgien, wo er den Künstlernamen Varisory annahm, und wurde beim Rundfunk tätig.

Als nächster aus der Familie emigrierte Stefanie Reiss’ Bruder Nathan Costa 1935 nach Palästina, nachdem seine geschiedene Ehefrau mit den Kindern schon 1933 dorthin ausgewandert war.

Im März 1933 zogen Mendel und Stefanie Reiss mit ihrem jüngsten Sohn Egon und der Haushälterin von Altona nach Hamburg, wo sie zunächst Mühlendamm 44 in Hohenfelde wohnten. Gleichzeitig wechselten sie nach langjähriger Mitgliedschaft in der Hochdeutschen Israelitengemeinde zu Altona zur Deutsch-Israelitischen Gemeinde in Hamburg.

Statt mit Herrenoberhemden zu handeln, erlernte Mendel Reiss nun ihre Fabrikation und Reparatur bei Carl Feder und wurde Mitinhaber der Oberhemdenfabrik Wegner & Co. in der Spaldingstraße in Hammerbrook. Da er nicht in der Handwerksrolle eingetragen war, konnte er kein eigenes Geschäft aufmachen, doch gelang es ihm 1935, Graskeller 18/20 eine kleine Verkaufsstelle für Herrenmodeartikel zu eröffnen. Zur gleichen Zeit bezog er eine Wohnung in der Hammer Landstraße 12 in Hamm. Eigentümer waren die Erben des Freiherrn von Ohlendorff, dessen prächtige Villa gegenüber auf dem Geesthang stand. Im Erdgeschoss des Mehrfamilienhauses befand sich das Lichtspielhaus Schauburg, darüber praktizierten Fachärzte und ein Zahnarzt. Bis zu seiner Auswanderung am 12. Mai 1936 nach Luxemburg wohnte Egon dort bei seinen Eltern.

Verona und Kurt Philip emigrierten offenbar 1937, nicht sehr viel später folgten ihnen Veronas Eltern mit der Haushälterin Henny Plate. Sie lebten zunächst in Den Haag, wo es Mendel und Stefanie Reiss gelang, sich selbst durch den Verkauf ihres Schmucks, zweier Pelzmäntel und der Briefmarkensammlung zu versorgen. 1938 erhielten sie zum letzten Mal Besuch von ihrem Sohn Joseph. Im Januar 1939 zog auch Siegmund Czaczkes mit seiner Familie, der Ehefrau Leonie und dem Sohn Gregor, geb. 9.2.1923, in die Niederlande.

Als die deutsche Wehrmacht am 10. Mai 1940 die Niederlande besetzte, musste das Küstengebiet geräumt werden. Mendel und Stefanie Reiss zogen nach Gouda und suchten dort eine Existenzgrundlage. Sie machten sich mit einem Geschäft für Strumpfreparaturen selbstständig. Henny Plate kehrte nach Hamburg zurück. Verona und Kurt Philip tauchten bis zum Ende der deutschen Besetzung der Niederlande unter und blieben nach der Befreiung dort.

Nachdem ab Ende 1942 die Juden in Amsterdam konzentriert wurden, lebten Mendel und Stefanie Reiss zuletzt in der Albrecht-Dürerstraat 1. Mendel Reiss übernahm im Oktober 1942 beim "Judenrat" in Amsterdam eine Funktion im "allgemeinen Dienst für soziale Anliegen der Arbeitsagentur Deutschland". Damit war beider "Sperre" verbunden, der Schutz vor der Deportation. Dennoch wurden sie bei der großen Razzia unter den noch verbliebenen Juden am 20. Juni 1943 verhaftet und im Durchgangslager Westerbork interniert.

Sie gehörten zu den Dauerhäftlingen, die dort als "Austauschjuden" beschäftigt wurden. Himmler benutzte sie, um sie ggfs. gegen Reichsdeutsche oder gegen Mangelgüter auszutauschen. Am 15. Februar 1944 wurden sie in das "Sternlager" im KZ Bergen-Belsen überführt, das dortige Aufenthaltslager für Austauschjuden. Dort starb Mendel Reiss am 28. Oktober 1944 im Alter von 68 Jahren.

Stefanie Reiss blieb noch den Winter über im Lager und wurde am 10. April 1945 mit einem Transport nach Theresienstadt geschickt. Sie starb auf dem Weg dorthin am 23. April 1945 in Tröbitz. Es handelte sich dabei um den später so benannten "Verlorenen Zug", mit dem als dem letzten von Dreien bei der Annäherung der britischen Armee ca. 2000 Häftlinge aus Bergen-Belsen nach Theresienstadt evakuiert werden sollten.

Nach einer zehntägigen Irrfahrt durch Deutschland auf dem Weg nach Falkenberg an der Elster in Südbrandenburg kam der Zug vor der gesprengten Elsterbrücke zum Halt. Unter den Passagieren war Typhus ausgebrochen. Die Rote Armee sorgte dafür, dass der Zug nach Tröbitz kam und sich die 700 Bewohner des Dorfes um die Insassen des Zuges kümmerten. Dabei steckten sich etliche von ihnen an. Insgesamt forderte die Typhus-Epidemie mehr als 320 Todesopfer. Unter ihnen war auch Stefanie Reiss. Sie wurde 57 Jahre alt. An sie wird in der dortigen Gedenkstätte erinnert.

Die in Hamburg verbliebenen Angehörigen von Mendel Reiss waren bereits deportiert worden: die Schwägerin Käthe Minna Reiss, geb. Lievendag, am 28.10.1938 nach Bentschen/Zbaszyn/Polen, Eleonore, verheiratete Holz, mit ihrem Ehemann Jacob, am 6. Dezember 1941 nach Riga (s. dieselben), Polina, verheiratete Holz, mit ihrem Ehemann Abraham Adolf Wolf am 19. Juli 1942 nach Theresienstadt. Niemand kehrte zurück.

Zymund/Siegmund, Leonie und Gregor Czaczkes waren nur wenige Tage in Westerbork interniert, bevor sie am 2. Juli 1943 in das Vernichtungslager Sobibor deportiert wurden.

Joseph Reiss-Varisory entkam nach vier Jahren Haft in verschiedenen Konzentrationslagern in Belgien und Frankreich bei der Überführung nach dem KZ Dachau aus dem Transport. Er erlebte mit falschen Papieren als Dolmetscher im Durchschleusungslager für ausländische Arbeitskräfte in Dachau das Kriegsende und blieb in Deutschland.

Egon Reiss emigrierte nach Kuba

Stand: Januar 2020
© Hildegard Thevs

Quellen: 1, 2 F 321, 4, 5, 8; Hamburger Adressbücher; StaH 351-11 Wiedergutmachung 3089, 9333, 18382, 29608, 35977, 41283; 332-5 Geburts-, Heirats-, Sterberegister; 522-1, Jüdische Gemeinden 390, 391; www.jüdischer-friedhof-altona.de/datenbank.html, Bornkampsweg; Joodsmonument; Hans-Dieter Arntz: Tröbitz 1945 und der Verlorene Zug, in: Der letzte Judenälteste von Bergen-Belsen, S. 449–530, Aachen 2012; Anna von Villiez, Mit aller Kraft verdrängt, München, Hamburg, S. 248; https://de.wikipedia.org/wiki/Vorzugsjude, Abruf 9.11.2019; Arolsen, Kartothek des Judenrats Amsterdam, Abruf 9.1.2020.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

druckansicht  / Seitenanfang