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Gerda Jürgensen
Gerda Jürgensen
© Archiv Evangelische Stiftung Alsterdorf

Gerda Jürgensen * 1933

Laeiszstraße 19 (Hamburg-Mitte, St. Pauli)


HIER WOHNTE
GERDA JÜRGENSEN
JG. 1933
EINGEWIESEN 1941
ALSTERDORFER ANSTALTEN
"VERLEGT" 16.8.1943
AM SPIEGELGRUND
"KINDERFACHBETEILUNG"
ERMORDET 4.12.1944

Gerda Lina Emma Jürgensen, geb. 17.4.1933 in Hamburg, am 20.8.1941 aufgenommen in den damaligen Alsterdorfer Anstalten (heute: Evangelische Stiftung Alsterdorf), am 16.8.1943 verlegt nach Wien in die "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien", gestorben am 4.12.1944 in Wien

Laeiszstraße 19 (St. Pauli)

Gerda Lina Emma Jürgensen wurde am 17.4.1933 im Krankenhaus Elim in Hamburg geboren. Sie war die Tochter des Barkassenführers Paul Hans Otto Jürgensen, geboren am 5.7.1897 in Hamburg, und seiner Ehefrau Marie Anna, geb. Jensen, geboren am 16.5.1900 in Wewelsfleth (im heutigen Kreis Steinburg). Das Paar hatte 1928 geheiratet und wohnte seitdem in der Laeiszstraße 19 im Stadtteil St. Pauli.

Gerda Jürgensen entwickelte sich körperlich altersgemäß, nicht aber geistig. Im Juli 1939 wurde sie vom Jugendamt Hamburg als ‚"nicht schulfähig" beurteilt. Das Mädchen sei auch für die Hilfsschule nicht geeignet, weil es durch sein unruhiges und unstetes Wesen den Unterricht für sich und die anderen Kinder unmöglich machen würde. ("Hilfsschule" war ein heute nicht mehr verwendeter Name für eigenständige sonderpädagogische oder heilpädagogische Schulen für Kinder, die man aus unterschiedlichen Gründen als nicht fähig zum Volksschulbesuch betrachtete). Gerda Jürgensen solle weiterhin den Kindergarten besuchen.

Am 16. August 1940 nahm Gerdas Vater sich das Leben. Ihre Mutter musste nun erwerbstätig werden und konnte ihr Kind nicht angemessen betreuen bzw. beaufsichtigen, so dass Gerda auch aus diesem Grunde weiter einen Kindergarten besuchte.

Eine erneute Untersuchung Gerdas im Oktober 1940 führte zu demselben Ergebnis wie im Juli 1939. Sie sei noch das gleiche unruhige, leicht erregbare Kind, vor dem "nichts sicher" sei. Gerda sei völlig unkonzentriert, es gelinge nicht, ihre Aufmerksamkeit zu fixieren. Sie beantworte auch kaum eine Frage, weil sie im selben Augenblick mit ihren Gedanken bei etwas ganz anderem sei. Das Kind könne weder im Kindergarten noch in Privatpflege untergebracht werden. Eine Einschulung komme nicht infrage. Deshalb wurde Gerda Jürgensens Einweisung in die damaligen Alsterdorfer Anstalten (heute: Evangelische Stiftung Alsterdorf) angestrebt.

Die Anstalten lehnten Gerdas Aufnahme gegenüber dem Jugendamt zunächst zweimal wegen Überbelegung ab, sodass das Mädchen erst am 20. August 1941 dort aufgenommen wurde. Einige kurze Eintragungen in der Patientenakte in den folgenden zwei Jahren verzeichneten Krankheiten. Ob es zu Besuchen der Mutter kam, lässt sich aus den Aufzeichnungen in der Akte nicht erkennen. Weil Gerda "sich sämtliche Fingernägel abkaut", wurde sie nachts in eine "Schutzjacke" gezwängt oder musste Lederhandschuhe tragen. (Mit einer "Schutzjacke", umgangsprachlich "Zwangsjacke", konnte eine weitgehende Bewegungseinschränkung erzwungen werden.)

Während der schweren Luftangriffe auf Hamburg im Ende Juli/Anfang August 1943 ("Operation Gomorrha") erlitten auch die Alsterdorfer Anstalten Bombenschäden. Die Anstaltsleitung nutzte die Gelegenheit, nach Rücksprache mit der Gesundheitsbehörde einen Teil der Bewohnerinnen und Bewohner, die als "arbeitsschwach, pflegeaufwendig oder als besonders schwierig" galten, in andere Heil- und Pflegeanstalten zu verlegen. Am 16. August 1943 ging ein Transport mit 228 Frauen und Mädchen aus Alsterdorf sowie 72 Mädchen und Frauen aus der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn in die "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien" in Wien (auch bekannt als Anstalt "Am Steinhof") ab. Unter ihnen befand sich Gerda Jürgensen.

Während der "Aktion-T4" (Tarnbezeichnung für das "Euthanasie"-Programm der Nationalsozialisten, so genannt nach dem Sitz der Berliner Euthanasiezentrale in der Tiergartenstraße 4) war die Anstalt in Wien Zwischenanstalt für die Tötungsanstalt Hartheim bei Linz gewesen. Nach dem offiziellen Ende der Gasmorde in den Tötungsanstalten 1941 wurde in der bisherigen Zwischenanstalt weiter gemordet.

Auf dem Gelände der Anstalt "Am Steinhof" befand sich seit 1940 eine "Kinderfachabteilung", die als "Wiener städtische Jugendfürsorgeanstalt ‚Am Spiegelgrund‘" bezeichnet wurde. Der Begriff "Kinderfachabteilung" wurde im NS-Deutschland für besondere Einrichtungen der Psychiatrie in Krankenhäusern sowie in Heil- und Pflegeanstalten verwendet, die der "Kinder-Euthanasie" dienten, also der Forschung an und Tötung von Kindern und Jugendlichen, die körperlich oder geistig schwer behindert waren.

Am 21. September 1944 wurde der damalige Leiter der sog. Kinderfachabteilung "Am Spiegelgrund", Ernst Illing, vom Reichsstatthalter in Wien beauftragt, ein Gutachten über Gerda Jürgensen zu erstellen. Den Anlass für diesen Auftrag kennen wir nicht. In dem "Gutachten" wurde zusammenfassend festgestellt: "bildungsunfähig". Damit war ihr Schicksal besiegelt.

Gerda Jürgensen starb im Alter von acht Jahren am 4. Dezember 1944.
Als Todesursache wurde "Lungenentzündung" angegeben.

In der Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt Wien wurden Patientinnen und Patienten systematisch durch Überdosierung von Medikamenten, durch Nichtbehandlung von Krankheiten, vor allem durch Nahrungsentzug ermordet. Von den 300 Mädchen und Frauen aus Hamburg kamen bis Ende 1945 257 ums Leben, davon 196 aus Alsterdorf. Von den aus Alsterdorf in Zwischenanstalten oder direkt in Tötungsanstalten der "Euthanasie" abtransportierten insgesamt 630 behinderten Kindern, Frauen und Männer sind – so der Kenntnisstand von 2016 – 511 getötet worden.

Stand: Juli 2021
© Ingo Wille

Quellen: AB; StaH 332-5 Standesämter 9139 Geburtsregister 1511/1897 Paul Hans Otto Petersen/Jürgensen, 3465 Heiratsregister 865/1923 Paul Hans Otto Jürgensen/ Marie Anna Jensen; Waltraud Häupl, Der organisierte Massenmord an Kindern und Jugendlichen in der Ostmark 1940-1945, Wien 2008, S. 65; Peter von Rönn, Der Transport nach Wien, in: Peter von Rönn u.a., Wege in den Tod, Hamburgs Anstalt Langenhorn und die Euthanasie in der Zeit des Nationalsozialismus, Hamburg 1993, S. 425 ff.; Michael Wunder, Ingrid Genkel, Harald Jenner, Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr – Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, Stuttgart 2016, S. 35, 283ff., 331 ff.; Herwig Czech, Erfassung, Selektion und "Ausmerze", Wien 203, S. 89 ff.; Harald Jenner, Michael Wunder, Hamburger Gedenkbuch Euthanasie – Die Toten 1939-1945, Hamburg 2017, S. 284.

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