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Bereits verlegte Stolpersteine



Helga Nieber, im Mai 1938
Helga Nieber, im Mai 1938
© Archiv Evangelische Stiftung Alsterdorf

Helga Nieber * 1931

Erste Brunnenstraße 1 / Ecke Michaelisstraße (Hamburg-Mitte, Neustadt)


HIER WOHNTE
HELGA DOROTHEA
NIEBER
JG. 1931
EINGEWIESEN 1934
ALSTERDORFER ANSTALTEN
"VERLEGT" 16.8.1943
AM SPIEGELGRUND
"KINDERFACHABTEILUNG"
ERMORDET 11.11.1943

Weitere Stolpersteine in Erste Brunnenstraße 1 / Ecke Michaelisstraße:
Edith Juschka

Helga Dorothea Nieber, geb. 26.12.1931 in Hamburg, eingewiesen am 12.6.1934 in die damaligen Alsterdorfer Anstalten, verlegt am 16.8.1943 in die Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien, gestorben am 11.11.1943

Erste Brunnenstraße 1/Ecke Michaelisstraße (Mauerstraße 21)

Die Eltern von Helga Nieber hatten am 8. Dezember 1931 geheiratet. Beide wohnten in der ehemaligen Mauerstraße 21, wo Helga am zweiten Weihnachtstag desselben Jahres geboren wurde. Am 26. Juni 1932 wurde sie in der gegenüberliegenden St. Michaeliskirche getauft. Ihr Vater Adolf Ernst August Nieber (geb. 4.4.1908 in Hitzacker, Kreis Dannenberg) fuhr als Schiffsheizer zur See. Ihre Mutter Martha Dorothea, geb. Claasen, geschiedene Harms (geb. 3.2.1897 in Kiel) hatte aus ihrer ersten Ehe, die am 10. April 1920 geschlossen und zehn Jahre später geschieden worden war, einen Sohn namens Wilhelm Hans Lauritz (geb. 6.11.1920 in Altona).

Helgas Geburt verlief ohne Komplikationen, aber nach drei Monaten zeigte sich, dass sie sich anders als gleichaltrige Kinder entwickelte. Am 12. Juni 1934, im Alter von zweieinhalb Jahren, wurde Helga auf Kosten der Fürsorgebehörde in die Alsterdorfer Anstalten eingewiesen (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf). Der überweisende Vertrauensarzt der Behörde begründete ihre Aufnahme mit "tiefstehender Idiotie, vollständiger Bildungsunfähigkeit, Hilflosigkeit und unerträglicher Unruhe bei Tag und bei Nacht".

Das Anstaltspersonal beschrieb Helga Nieber in der Patientenakte als blondes zartes Kind, das nicht laufen konnte und dessen Entwicklung nach einer Rachitiserkrankung, einer Wachstumsstörung aufgrund von Mangelernährung, nicht dem Alter entsprach. Das Pflegepersonal hielt weiter fest, dass Helga sehr anhänglich und liebesbedürftig sei, "wenn man ihr übers Haar streicht, geht ein Lächeln über ihr Gesicht; sie mag gern, wenn man sich mit ihr beschäftigt, sie spielt mit ihrer Puppe, beobachtet alles und kennt ihre Umgebung". Da Helga sehr unruhig war und die anderen Kinder störte, wurde sie nachts isoliert.

Obwohl Martha Nieber berufstätig war, bat sie bereits im Juli 1934 wieder um die Entlassung ihrer Tochter, was nicht bewilligt wurde. Sie konnte Helga aber "auf Urlaub" nach Hause holen, so z.B. an den Geburtstagen.

Im September 1938 lautete ein Vermerk in Helgas Krankenakte: "Sprechen kann sie nicht, schreit zeitweise sehr viel. Gern rutscht sie auf dem Fußboden herum. Steckt alles in den Mund oder kaut auf allen Gegenständen. [...] Weiterer Anstaltsaufenthalt ist erforderlich."

Helga Nieber verbrachte fast neun Jahre ihres kurzen Lebens in den Alsterdorfer Anstalten. Zuwendung und Förderung hat sie vermutlich nicht erhalten, da sie zuletzt aggressive Züge zeigte. In einem der letzten Einträge am 19. März 1943 hieß es über sie: "Pat.[ient] zerreißt, trotzdem sie eine Schutzjacke anhat und angegurtet ist, mit den Zähnen alles was sie erreichen kam. Daraufhin hat sie jetzt eine Art Halskrause bekommen. Diese steht hoch und reicht bis über den Mund. Dieser Schutz hat sich bewährt."

Helga Niebers angebliche Aggression war wohl auch der Grund, weshalb sie am 16. August 1943 auf Veranlassung der Anstaltsleitung mit 227 Frauen und Mädchen in die Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien verlegt wurde.

Dort wurde die Zwölfjährige zunächst in die Frauenabteilung aufgenommen und am 25. September 1943 mit weiteren dreizehn Mädchen aus "Alsterdorf" in die "Kinderfachabteilung" der "Wiener städtischen Nervenklinik für Kinder, Im Spiegelgrund", Baumgartenhöhe 1 verlegt. Diese Nervenklinik befand sich auf demselben Gelände, war aber eine selbstständige Einrichtung. Helga wurde hier untersucht und beobachtet, am 13. Oktober 1943 wurde eine Enzephalographie vorgenommen, eine sehr schmerzhafte und nicht ungefährliche Untersuchung der Hirnkammern. Kurz darauf wurde sie auf Diätkost gesetzt, obwohl sie bei ihrer Körpergröße von 113 cm nur noch 19,5 kg wog.

Der Leiter der "Kinderfachabteilung", Obermedizinalrat Ernst Illing, verfasste am 20. Oktober 1943 einen Bericht über Helga, der für den "Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden" in Berlin bestimmt war. Er urteilte, Helga sei "geistig ganz tiefstehend" und eine Bildungs- oder spätere Arbeitsfähigkeit sei mit Sicherheit auszuschließen. Diese negative Beurteilung, von der wir nicht wissen, ob sie nach Berlin geschickt oder gleich in der Kinderfachabteilung umgesetzt wurde, war ausschlaggebend für Helgas Tötung, denn nur wer im Sinne des NS-Staates noch leistungsfähig schien, durfte weiterleben.

Ihre Mutter Martha, die inzwischen in Hamburg in die Fischerstraße 42 umgezogen war, wurde im Juli 1943 bei den schweren Luftangriffen ausgebombt. Sie fand eine Unterkunft im Silbersack 60 bei Neumann und erfuhr von der Verlegung ihres Kindes zunächst nichts. Im Oktober schrieb sie nach Wien und bat um Auskunft: "Den Umständen nach, da ich meinen Mann, Helgas Vater auf See verlor [Adolf Nieber, zur Kriegsmarine eingezogen, kam am 24. November 1941 südwestlich von Kreta ums Leben], mein Sohn aus Erster Ehe am 19.5.1943 im Lazarett seinen Verwundungen erlegen ist, und nun am 24.-25. Juli auch mein Heim verlor, war ich vollständig erschöpft. So glaubte ich Helga wäre geborgen. Zu spät begab ich mich nach Alsterdorf, musste nun erst erfahren, dass Helga fort ist. Bitte höflichst mich nicht als gleichgültige Mutter zu betrachten und bitte um Nachricht."

Martha Nieber erhielt am 4. November 1943 einen auf die Todesnachricht vorbereitenden sogenannten Warnbrief vom Arzt Ernst Illing: "Mit Bedauern haben wir von dem schweren Geschick, das Sie betroffen hat vernommen. Ihr Kind Helga befindet sich seit 25.9.1943 in der hiesigen Klinik. Seit der Aufnahme ist weder körperlich noch in geistiger Hinsicht eine Änderung eingetreten. Das Kind befindet sich in herabgesetztem Ernährungszustand. Es handelt sich bei ihrer Tochter um ein wahrscheinlich erworbenes hirnorganisches Leiden mit einem Wasserkopf, Lähmungen aller vier Gliedermaßen und hochgradig geistiger Rückständigkeit. Wenn auch zur unmittelbaren Besorgnis kein Anlass besteht, so ist im Ganzen doch der Zustand als ernst zu bezeichnen."

Am 23. November folgte eine Nachricht, unterschrieben von der Assistenzärztin Marianne Türk, die an der "Euthanasie" beteiligt war, Helga sei am 11. November 1943 an einer Lungentuberkulose verstorben, und da ein am Todestag aufgegebenes Telegramm an die alte Anschrift ihrer Mutter als unzustellbar zurückgekommen sei, habe die kostenlose Beisetzung bereits auf dem Wiener Zentralfriedhof stattgefunden.

Ob bei Helga absichtlich eine Lungenentzündung mit dem Medikament Luminal herbeigeführt wurde, ließ sich nicht klären. Die Kinder wurden kaum noch ernährt und erhielten überdosierte Medikamente. An einigen soll auch ein Impfstoff gegen Tuberkulose getestet worden sein.

Im Sektionsprotokoll vermerkte die Pathologin Uiberrak: "rachitisch deformiertes Skelett, Bronchitis, TBC".

Helgas Gehirn wurde, wie auch die Gehirne der anderen dreizehn Hamburger Kinder, die in die "Kinderfachabteilung" verlegt worden waren, für gehirnanatomische Forschungszwecke verwendet, Teile wurden präpariert und konserviert.
1996 erstritten Antje Kosemund, deren Schwester Irma Sperling ebenfalls im "Spiegelgrund", der "Kinderfachabteilung" der Anstalt ermordet wurde, und Michael Wunder von der Evangelischen Stiftung Alsterdorf die Herausgabe von zumindest zehn Gehirnpräparaten. Sie wurden auf dem Ehrenfeld der Geschwister-Scholl-Stiftung auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg bestattet (s. www.stolpersteine-hamburg.de).

Stand: Juli 2021
© Susanne Rosendahl

Quellen: StaH 332-5 Standesämter 2283 u 569/1892; StaH 332-5 Standesämter 3385 u 247/1920; StaH 332-5 Standesämter 13583 u 724/1931; StaH 332-5 Standesämter 1150 u 311/1941; StaH 332-5 Standesämter 1166 u 302/1943; Archiv Evangelische Stiftung Alsterdorf, Patientenakten der Alsterdorfer Anstalten, V 143 Nieber Helga; Michael Wunder/Ingrid Genkel/Harald Jenner, Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr - Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, Stuttgart 2016; Antje Kosemund, Spurensuche Irma, S. 12-17.

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