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Bereits verlegte Stolpersteine



Bernhard Reiss * 1871

Krayenkamp / Ecke Wincklerstraße (Hamburg-Mitte, Neustadt)


HIER WOHNTE
BERNHARD REISS
JG. 1871
EINGEWIESEN 1940
HEILANSTALT LANGENHORN
"VERLEGT" 23.9.1940
BRANDENBURG
ERMORDET 23.9.1940
"AKTION T4"

Bernhard Reiss, geb. 31.10.1871 in Hamburg, ermordet am 23.9.1940 in der "Landes-Pflegeanstalt" Brandenburg an der Havel

Ecke Krayenkamp/Wincklerstraße (Hamburg-Neustadt)

Der am 25. März 1840 geborene bayrische Staatsangehörige Michael Reiss aus Alsheim in der Nähe von Worms heiratete im Dezember 1865 die Hamburgerin Adele Lewin, geboren 1843, und ließ sich in der Heimatstadt seiner Ehefrau nieder. Beide Eheleute bekannten sich zur jüdischen Religion.

Wenige Monate später, am 28. Februar 1866, kam der erste Sohn, Alexander, zur Welt. Ihm folgten am 5. August 1869 Theodor und am 31. Oktober 1871 Henry, der im Mai 1872 in Bernhard umbenannt wurde. Am 21. Mai 1876 kam das vierte Kind, Henry, zur Welt. Schließlich bekamen Michael und Adele Reiss am 25. Februar 1880 noch eine Tochter, Hanchen.

Die Familie wohnte zunächst in der Peterstraße, wahrscheinlich ab 1869 in der Straße Krayenkamp 18 in der Hamburger Neustadt. Michael Reiss gab bei der Geburt seiner Kinder als Beruf Handelsmann an. Im Hamburger Adressbuch wurde er regelmäßig als Zigarrenarbeiter bezeichnet.

Adele Reiss starb bereits am 5. Februar 1882 im Alter von 39 Jahren. Bernhard war erst zehn Jahre, Hanchen noch nicht ganz zwei Jahre alt. Michael Reiss ging neun Monate später, am 14. November 1882, eine zweite Ehe ein, und zwar mit Regina Katz, geboren am 10. November 1843 in Eiterfeld nordöstlich von Frankfurt am Main. Sie bekannte sich ebenfalls zum jüdischen Glauben. Die Ehe blieb kinderlos.

Bernhard Reiss lebte auch als junger Erwachsener im Haushalt seines Vaters und seiner Stiefmutter und war als Handlungsgehilfe tätig. Er war 24 Jahre alt, als sein Arzt ihn als "maniakalisch erregt" beurteilte und am 26. Mai 1895 in die damalige "Irrenanstalt" Friedrichsberg einwies. Da sich Bernhard Reiss’ Krankheitszustand über längere Zeit nicht veränderte, wurde er am 19. September 1902 in die damalige "Irrenanstalt" Hamburg-Langenhorn verlegt. Auch hier zeigten sich laut der Krankenakte keine Verbesserungen seines Krankheitsbildes.

Aufgrund dauernder Überbelegung der inzwischen in "Staatskrankenanstalt" umbenannten Einrichtung in Langenhorn hatte Hamburg in der Lübecker Heilanstalt Strecknitz neue Gebäude mit einer Kapazität von zunächst 300 Betten darlehensweise finanziert und sich dafür das Belegungsrecht für diese "Hamburger Häuser" gesichert. Aufgrund dieses Abkommens wurde Bernhard Reiss am 3 Oktober 1930 nach Strecknitz überstellt und blieb dort bis 1940.

Im Frühjahr/Sommer 1940 plante die "Euthanasie"-Zentrale in Berlin, Tiergartenstraße 4, eine Sonderaktion gegen Juden in öffentlichen und privaten Heil- und Pflegeanstalten. Sie ließ die in den Anstalten lebenden jüdischen Menschen erfassen und in staatlichen sogenannten Sammelanstalten zusammenziehen. Die inzwischen in "Heil- und Pflegeanstalt" umbenannte Einrichtung in Langenhorn wurde zur norddeutschen Sammelanstalt bestimmt. Alle Anstalten in Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg wurden angewiesen, die dort lebenden Juden bis zum 18. September 1940 dorthin zu verlegen.

Bernhard Reiss traf am 16. September 1940 in Langenhorn ein.

Am 23. September 1940 wurde er mit weiteren 135 Patientinnen und Patienten aus norddeutschen Anstalten nach Brandenburg an der Havel transportiert. Der Transport erreichte die märkische Stadt noch an demselben Tag. In dem zur Gasmordanstalt umgebauten Teil des ehemaligen Zuchthauses trieb man die Patienten umgehend in die Gaskammer und ermordete sie mit Kohlenmonoxid. Nur Ilse Herta Zachmann entkam zunächst diesem Schicksal (siehe www.stolpersteine-hamburg.de).

Es ist nicht bekannt, ob und ggf. wann Angehörige Kenntnis von Bernhard Reiss’ Tod erhielten. In allen dokumentierten Mitteilungen wurde behauptet, dass der oder die Betroffene in Chelm (polnisch) oder Cholm (deutsch) verstorben sei. Die in Brandenburg Ermordeten waren jedoch nie in Chelm/Cholm, einer Stadt nordöstlich von Lublin. Die dort früher existierende polnische Heilanstalt bestand nicht mehr, nachdem SS-Einheiten am 12. Januar 1940 fast alle Patienten ermordet hatten. Auch gab es in Chelm kein deutsches Standesamt. Dessen Erfindung und die Verwendung späterer als der tatsächlichen Sterbedaten dienten dazu, die Mordaktion zu verschleiern und zugleich entsprechend länger Verpflegungskosten einfordern zu können.

Bernhard Reiss’ Vater Michael war 1910 im Alter von 70 Jahren verstorben, seine Stiefmutter Regina Reiss, geborene Katz, 1916 im Alter von 72 Jahren. Die Schicksale von Bernhards Geschwistern Alexander, Henry, Theodor und Hanchen kennen wir nicht.

Am Krayenkamp 18, der früheren Wohnadresse der Familie Reiss, befindet sich heute eine ausgedehnte Grünanlage. Der Stolperstein zur Erinnerung an Bernhard Reiss wurde deshalb an der Straßenecke Krayenkamp/Wincklerstraße in den Fußweg eingelassen.

Stand: November 2021
© Ingo Wille

Quellen: 1; 4; 5; AB; StaH 133-1 III Staatsarchiv III, 3171-2/4 U.A. 4, Liste psychisch kranker jüdischer Patienten der psychiatrischen Anstalt Langenhorn, die aufgrund nationalsozialistischer "Euthanasie"-Maßnahmen ermordet wurden, zusammengestellt von Peter von Rönn, Hamburg (Projektgruppe zur Erforschung des Schicksals psychisch Kranker in Langenhorn); 332-03 Zivilstandsaufsicht A 3 Geburtsregisterauszug Nr. 874/1866 Alexander Reiss, A 119 Geburtsregisterauszug Nr. 6501/1871 Henry (Bernhard) Reiss, 332-5 Standesämter 123 Sterberegisterauszug Nr. 384/1882 Adele Reiss, 749 Sterberegisterauszug Nr. 558/1916 Regina Reiss, 1882 Geburtsregisterauszug Nr. 2437 Henry Reiss, 1975 Geburtsregisterauszug Nr. 975/1880 Hanchen Reiss, 2644 Heiratsregisterauszug Nr. 1303 Michael Reiss/Regina Katz, 8005 Sterberegisterauszug Nr. 805/1910 Michael Reiss; 352-8/7 Staatskrankenanstalt Langenhorn 1991/1 1154 Bernhard Reiss; 522-1 Jüdische Gemeinden 702 d Heiratsregisterauszug Nr. 85/1865 Michael Reiss/Adele Lewin; JSHD Forschungsgruppe "Juden in Schleswig-Holstein", Datenpool Erich Koch, Schleswig.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Recherche und Quellen.

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