Namen, Orte und Biografien suchen


Bereits verlegte Stolpersteine



Simon Müller * 1865

Feldstraße 46 (Hamburg-Mitte, St. Pauli)


HIER WOHNTE
SIMON MÜLLER
JG. 1865
GEDEMÜTIGT / ENTRECHTET
FLUCHT IN DEN TOD
19. JAN. 1944

Weitere Stolpersteine in Feldstraße 46:
Helene Lieber

Simon Philipp Müller, geb. am 19.6.1865 in Loga, am 19.1.1944 Flucht in den Tod
Frida Amanda Elise Müller, geb. Neie, geb. am 9.7.1879 in Berlin, am 11.7.1942 Flucht in den Tod (Stolperstein geplant)
Helene Frida Eugenie Lieber, geb. Müller, geb. am 20.8.1898 in Berlin, am 11.7.1942 Flucht in den Tod

Feldstraße 46

Am 19. Januar 1944 war das Zimmer von Simon Müller auch noch am Vormittag abgedunkelt. Müller, 78 Jahre alt, lebte im Hamburger Karolinenviertel – Feldstraße 46, erster Stock, bei seinem Sohn und dessen Familie. In dieser Nacht schlief er eine Etage tiefer, wo Eltern und Schwester seiner Schwiegertochter wohnten. Es war halb elf, als die Schwiegertochter Elisabeth Rogers dort bemerkte, dass etwas nicht stimmte. Simon Müller war noch nicht aufgestanden. Er war Jude. Ahnte sie, was passiert war? Laut Polizeibericht betrat sie das Zimmer nicht, sondern verständigte Müllers Sohn Kurt. Dieser sagte später aus, dass sein Vater öfter gesagt habe, er werde sich "etwas antun", wenn er "die Aufforderung zur Evakuierung bekäme", das heißt den Deportationsbefehl. In den vorherigen elf Jahren hatten die Nationalsozialisten den namhaften Briefmarkenhändler geächtet, entrechtet und wirtschaftlich ruiniert. Seine Ehefrau und seine Tochter waren tot.

Simon Philipp Müller war am 19. Juni 1865 in Loga bei Leer zur Welt gekommen. Sein Vater war der Schlachter Philipp Simon Müller, seine Mutter Lina Müller, geborene Fiebelmann. Die Eheleute gehörten der jüdischen Gemeinde von Leer an. Als Simon Müller 13 oder 14 Jahre alt war, starb sein Vater. Müller ging in die Lehre zum "Manufakturwaren- und Teppichhändler" und zog irgendwann nach Berlin. Dort heiratete er am 22. März 1898 die neun Jahre jüngere Näherin und gebürtige Berlinerin Frida Neie. Sie war keine Jüdin, in der Heiratsurkunde wurden beide Eheleute als "religiöse Dissidenten" bezeichnet, gehörten also keiner Religionsgemeinschaft an.

Das Ehepaar wohnte in Berlin in der Fehrbelliner Straße 52. Wenige Monate nach der Hochzeit bekamen sie das erste von drei Kindern: Helene Frida Eugenie, geboren am 20. August 1898. Im nächsten Jahr folgte Friedrich Wilhelm. Das dritte Kind, Kurt Philipp, kam 1901 zur Welt. Noch im selben Jahr zog die Familie nach London. Dort betrieb Simon Müller ein "ansehnliches Gold-Silberwaren und Uhren-Exportgeschäft".

1904 wechselte die Familie erneut den Wohnort - und ging nach Hamburg, anfangs in den Holstenwall 9, dann in die Glashüttenstraße 40 und den Grindelberg 33. Im Juli 1909 erwarb Simon Müller das Wohnhaus in der Feldstraße 46, die Familie zog dort ein. Ob Frida Müller damals einen Beruf ausübte, ist nicht bekannt. Vermutlich kümmerte sie sich um die drei noch verhältnismäßig jungen Kinder.

Simon Müller erwarb 1906 die hamburgische Staatsangehörigkeit. Beruflich spezialisierte er sich den Briefmarkenhandel. Sein "Markenhaus Müller & Co Briefm.-Imp" logierte in der Feldstraße 46. Die Firma war eines der ältesten Importhäuser des Deutschen Reiches und als jüdisches Unternehmen bekannt. Die Geschäfte liefen offenbar über viele Jahre gut, Familie Müller brachte es zu einigem Wohlstand. Um 1914 wies die Inventur des Geschäftes einen Warenbestand von circa 180.000 Reichsmark aus. Kurt Müller nach dem Krieg rückblickend über die wirtschaftliche Lage seines Vaters Anfang der 1920er Jahre: "Der Vater war damals ein wohlhabender Mann, der s.Zt. neben einem alteingeführten Im=und (sic!) Exportgeschäft mindestens 6 Revenue-Grundstücke besaß." (Vermutlich sind damit erschlossene, baureife Grundstücke gemeint)

Auch die Aussteuer der Tochter Helene zeugte vom Wohlstand der Familie, wie er ausführte: "Meine Schwester erhielt damals von ihren Eltern einen kompletten Hausstand als Aussteuer, nämlich eine 3 Zimmerwohnung und Küche: Wohnzimmer, Speisezimmer, Schlafzimmer vom Teppich bis zur Krone alles enthalten, incl. sämtlicher Hausstandswäsche."

Helene Müller heiratete am 30. April 1921 den gut zwölf Jahre älteren Gustav Lieber. Er hatte zuvor in Wien gelebt und dort bei der Donau-Dampfschifffahrtsgesellschaft gearbeitet. In Hamburg verlegte er sich auf den Briefmarkenhandel. Da er "über keine Fachkenntnisse verfügte, arbeitete er 2 oder 3 Jahre im Geschäft des Schwiegervaters um sich dann selbständig zu machen", wie der Fachverband nach dem Krieg bestätigte. Mitte der 1920er Jahre liefen die Geschäfte gut, so scheint es. Zwischen 1923 und 1927 erwarb Lieber drei Grundstücke.

Die offenbar guten Zeiten der Familie endeten mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Nun wurde es von Jahr zu Jahr schwerer. Der mittlere Sohn Friedrich Wilhelm Müller suchte sein Glück 1934 in Übersee, er wanderte in die USA aus, wo er blieb und eine Familie gründete. Der Rest der Familie blieb in Hamburg und musste dort die schrittweise Entrechtung und Ausplünderung der jüdischen Deutschen erleben. Simon Müller hatte nun beruflich mit Behörden und Mitbewerbern zu kämpfen: "1933 begann in der Fachgruppe bereits der Boykott und die nachfolgenden Maßnahmen. Mein Vater verlor dadurch jeden Kontakt mit den sogenannten Geschäftsfreunden. Es kam niemand mehr zu ihm, und er ging nirgends hin", schrieb Kurt Müller rückblickend in den 1950er Jahren. Die Vereinigung der Hamburger Briefmarkenhändler sei durch "Parteileute" übernommen worden. "Nach Inkrafttreten der Nürnberger Gesetze wurde das Geschäft derart boykottiert, dass es mit Verlust arbeitete und bald alle Reserven verschwunden waren."

Simon und Kurt Müller sahen sich "gezwungen, Notverkäufe vorzunehmen, so dass sie auch ihre besten Markenartikel verschleudern" müssen." Dies schlug sich in den Zahlen der GmbH nieder: 1933 machte die Firma beispielsweise einen Umsatz von 26.059 Reichsmark und erwirtschaftete damit einen Verlust von 9.320 Reichsmark, 1937 betrug der Umsatz 16.054 Reichsmark, und das steuerpflichtige Einkommen lag bei 106 Reichsmark.

Im August 1938 leitete der nun 37-jährige Kurt Müller die Übernahme der Gesellschafteranteile der GmbH in die Wege, "da Halbjuden angeblich wirtschaftlich keine Nachteile erwarten" sollten. Als Sohn aus einer Mischehe, als die die Ehe seiner Eltern nun galt, stuften die Nationalsozialisten ihn als "Halbjuden" und - da er nichtjüdisch erzogen worden war - als "Mischling ersten Grades" ein. Nach den Bestimmungen konnten diese das Eigentum jüdischer Elternteile übernehmen und es so "arisieren". Doch im November scheiterte seine Übernahme des Markenhauses vorerst. Die Umwandlung der Firma in ein Einzelunternehmen wurde "durch zweimaliges Schließen des ›jüdischen Unternehmens‹ unterbunden", schrieb Müller rückblickend, und sein Vater habe als Geschäftsführer ausscheiden müssen.

Gegen Simon Müller wurde im November zudem wegen "Kapitalfluchtverdacht" eine vorläufige "Sicherungsanordnung" für mehrere Grundstücke im Wert von 124.300 Reichsmark erlassen. Wenig später gelang es dem Senior jedoch, diese seinem Sohn zu schenken, darunter das Grundstück in der Feldstraße 46. Aus einem Schreiben an die Devisenstelle in Hamburg vom 23. November 1938: "Herr Müller jun., welcher die Grundstücke übernehmen will ist Reichsbürger. Da seine Mutter Arierin ist, der Nachweis ist bei der Kämmerei in Altona hinterlegt, so [ist] er Mischling. Er ist ev.-luth. getauft, konfirmiert, christlich erzogen und mit einer Arierin seit fünf Jahren verheiratet."

Kurt Müllers Bemühen um das Markenhaus zeitigten am Ende also doch noch Erfolg: "Jüdische Gesellschafter-Anteile wurden von mir übernommen. Die Parteiorgane, deren Handlanger in der Fachgruppe und die zuständigen Ämter mußten die Freigabe anordnen. Nach von mir belegbaren Schwierigkeiten durch die Verwaltung für Handel, Schifffahrt und Gewerbe gelang mir dennoch durch Gesellschafterbeschluss, d.h. mit mir als alleinigem Inhaber aller Anteile, die Firma unter meine Regie zu bringen und die Rückwandlung in eine Einzelfirma durchzusetzen."

Das geschah im Dezember 1938. Simon Müller legte einen Offenbarungseid ab, aus der "Familien-G.m.b.H." wurde eine "einfache Handelsfirma". Kurt Müller konnte die Firma nun aus dem Verzeichnis jüdischer Gewerbebetriebe streichen lassen. Die Probleme verschwanden damit jedoch keineswegs: "Obwohl der Propaganda nach für Halbjuden angeblich keine wirtschaftlichen Schwierigkeiten bestanden, wurde das Geschäft am 17.12.1938, drei Tage nach dem Übergang auf mich, nochmals geschlossen. Auf meine Beschwerde erfolgte zwangsläufig erneute Freigabe, jedoch wurde ich nun, wegen des der Behörde geschlagenen Schnippchens, noch schwererem Boykott durch die Kollegenschaft ausgesetzt."

In dieser Zeit, wenige Monate vor dem deutschen Angriff auf Polen, durchlebte seine Schwester Helene Lieber eine tiefe Krise. Durch ihre Ehe mit Gustav Lieber, nach Definition der Nürnberger Rassengesetze "Volljude", lebte sie – als ledige Frau noch "Mischling ersten Grades" – nun als "Geltungsjüdin" in einer als jüdisch eingestuften Ehe. Damit war sie einer stärkeren Verfolgung ausgesetzt. Zudem befand sich die wirtschaftliche Existenz ihres Ehemannes in Gefahr: Die Diskriminierungen durch die Behörden zwangen Gustav Lieber 1938 dazu, sein Briefmarkengeschäft aufzugeben. Ein noch tieferer Einschnitt im Leben des Ehepaares Lieber stellte der Novemberpogrom 1938 dar, denn Gustav Lieber wurde verhaftet und am 10. November 1938 ins Konzentrationslager Sachsenhausen-Oranienburg eingewiesen. Im Dezember 1938 konnte er – offenbar auf Betreiben seiner Ehefrau und ihres Bruders Kurt – mit der Auflage freikommen, Deutschland zu verlassen.

Bekannt ist, dass Gustav Lieber im Frühjahr 1939 seine Ausreise vorbereitete. Die Behörden verlangten von ihm detailliert Auskunft über sein Eigentum. Wie alle Juden, die auswandern wollten, musste er unter anderem die Gegenstände auflisten, die er seit dem 1. Januar 1933 erworben hatte und ins Ausland mitzunehmen gedachte. Am 13. März 1939 fand eine "Überprüfung des Umzugsgutes" durch den Zoll statt. Dabei wurden "3 Unterhosen", eine Wolldecke, ein neuer Hut und ein Pullover entdeckt, die nur für die Ausreise angeschafft worden sein sollten. Lieber musste für diese Güter die sogenannte "Dego-Abgabe" in Höhe des Anschaffungswertes abführen - 100 Reichsmark. Die Abgabe an die Deutsche Golddiskontbank war eines von mehreren Mitteln der Nationalsozialisten, jüdischen Bürgern bei Auswanderung ihr Vermögen zu entziehen.

Im April 1939 verließ Gustav Lieber Deutschland. Er ging für einige Wochen nach Paris, dann nach Großbritannien. Seine Ehefrau Helene blieb in Hamburg. "Warum er seine Frau nicht mitnahm, ist nicht erklärlich", schrieb Kurt Müller später in einem Brief an das Wiedergutmachungsamt. Gustav Lieber begründete die alleinige Ausreise nach dem Krieg damit, dass seine damalige Ehefrau auf Bitten ihrer Mutter in Deutschland zurückgeblieben sei, "die sich nicht von ihrer Tochter trennen wollte." Dies bestritt Kurt Müller vehement. Gustav Lieber habe sich erst eine neue Existenz aufbauen wollen und zudem nicht die finanziellen Möglichkeiten gehabt, seine Frau mitzunehmen, da er "mit ganzen 10 oder 50.- RM Deutschland verlassen musste."

In Großbritannien wurde Lieber nach Kriegsbeginn als Ausländer aus einem verfeindeten Land im "Hutchinson Internment Camp" auf der Isle of Man interniert. Hutchinson galt wegen seines künstlerischen und intellektuellen Lebens als "Lager der Künstler". Mit Gustav Lieber interniert war unter anderem der deutsche Dichter und Maler Kurt Schwitters, der ihn in dieser Zeit mehrfach zeichnete. Den Kontakt zu seiner Frau hielt Lieber "die erste Zeit" aufrecht, später nicht mehr.

Helene Lieber zog zu ihren Eltern in die Feldstraße 46. Alle Versuche, ihren Mann postalisch zu erreichen, nachdem der Postverkehr mit dem Kriegsgegner Großbritannien auf den bis dahin üblichen Wegen nicht mehr möglich war – über das Rote Kreuz in Stockholm, Genf, Berlin und über andere Kanäle – erwiesen sich als erfolglos.

Wie finanzierte Helene Lieber ihr Leben nach dem Weggang ihres Ehemannes? Kurt Müller verkaufte, wie offenbar vor der Ausreise besprochen, im Auftrag Gustav Liebers zwei Grundstücke, wohl zu vergleichsweise guten Preisen. "Jedoch der Überschuss wurde der Ehefrau nicht ausgezahlt, sondern vom Staat eingezogen. Lediglich 3.500 RM entriß ich damals dieser Aktion dadurch, daß ich selbst als Gläubiger auftrat. Von diesem Geld hat Frau Lieber einige Zeit gelebt."

Dann gestaltete sich Helene Liebers finanzielle Lage immer schwieriger. Sie war auf Darlehen ihres Bruders angewiesen. Ihre Eltern übernahmen die Kosten für den Sprachunterricht als Vorbereitung für eine Ausreise, um die sie sich bemühte. "Auswanderung nach US., nach Cuba, u.a.m. wurde betrieben, alle notwendigen Papiere einschließlich Gesundheitsatteste beschafft", so fasste ihr Bruder die Situation später zusammen. Doch die Bemühungen blieben vergeblich, und der Kontakt zu ihrem Ehemann weiterhin abgerissen. Nach dem Krieg schrieb Kurt Müller über Letzteres: "Frau Liebers Widerstand gegen die Martyrien des Nazitums wurde dadurch mehr zermürbt, als sie jemals zugab." Helene Lieber habe "die ersten Jahre" fest geglaubt, dass sich ihr Ehemann "für ihr Nachkommen voll einsetzen würde."

1941 verschlechterten mehrere Ereignisse die Lage der Familie merklich. Weil auch nach Kurt Müllers Firmenübernahme der Geschäftsbetrieb durch "den offen betriebenen und geforderten Boykott der Fachgruppe" behindert wurde – beispielsweise wurde ihm die Zuteilung von Devisen für den Ankauf von Auslandsbriefmarken versagt – sah sich Kurt Müller gezwungen, das "Markenhaus" zu verkaufen. (Nach dem Krieg forderte er vom Käufer die Rückgabe).

1941 begannen die Alliierten mit Flächenangriffen auf deutsche Städte. Auch Hamburg wurde bombardiert. Bei Luftalarm spürte Familie Müller die Ausgrenzung deutlich. Ein ehemaliger Luftschutzkellerordner erinnerte sich nach dem Krieg: "Für Familie Müller bestand ein Raum des Hauskellers, der hinter 3 Toiletten lag. Dieser Kellerraum war vom Treppenhaus zu erreichen, während der öfftl. Luftschutzraum seinen Eingang von der Straße hatte. Es war verfügt worden, daß die nicht arische Familie Müller den Öff. Luftschutzkeller nicht nutzen durften und sie einen gesonderten Raum aufzusuchen hätten."

Im Mai wurde das Haus in der Feldstraße bei einem Luftangriff schwer beschädigt. Familie Müller musste ihre Wohnung innerhalb von zwei Stunden räumen. Erst später wurden das Erdgeschoss und der erste Stock wieder bewohnbar. Die Eheleute Müller und Tochter Helene zogen notgedrungen zu diesem Zeitpunkt in eine kleinere Wohnung im Schrammsweg 10.

Helene Lieber trennte sich gezwungenermaßen aus Platzmangel von einigen Möbeln. Ihr Leben wurde nach dem 1. September 1941 noch fremdbestimmter als zuvor. Sie musste nun den "Judenstern" tragen. Zudem verpflichteten die Behörden sie zur Zwangsarbeit, als "Reinmachfrau", so erinnerte sich ihr Bruder nach dem Krieg in einem Antrag auf Wiedergutmachung. Helene Lieber arbeitete als Haushälterin bei der Familie des Hausmaklers Siegfried Kleve. (Er wurde 1941 im KZ Fuhlsbüttel inhaftiert und am 11. Juli 1942 gemeinsam mit seiner Frau Erna, geborene Lasch, nach Auschwitz deportiert und ermordet, Biographie siehe www.stolpersteine-hamburg.de).

Wohl in der Hoffnung, ihren Status der "Geltungsjüdin" ablegen zu können, reichte Helene Lieber die Scheidungsklage ein, der am 13. März 1942 stattgegeben wurde. Danach versuchte sie offenbar, so ihr Bruder: "eine Scheinehe mit einem Ausländer einzugehen", was ihr nicht gelang. Kurt Müller setzte sich in der Folge für seine Schwester ein: "Ich selber bin zweimal zum Ministerium des Inneren gefahren nach Berlin, einmal zum Reichssippenamt, um ihre Erklärung zum Mischling I. Grades zu erreichen." Die Bemühungen blieben vergebens.

Zum 9. Juli 1942 mussten das Ehepaar Müller und Helene Lieber in die Dillstraße 16, Erdgeschoss, umziehen – ein sogenanntes Judenhaus. Einen Tag zuvor hatte Helene Lieber den Deportationsbefehl, den "Evakuierungsbefehl Nr. 4431" für den 10. Juli 1942 erhalten. Am 11. Juli 1942 sollte ihr Transport nach Auschwitz gehen, wobei dieser Zielort nicht bekannt gegeben wurde. Der Deportationsbefehl bedeutete auf jeden Fall die Trennung von der Familie, und Frida Müller und ihre Tochter verband eine besonders enge Beziehung.

Am Morgen des 10. Juli 1942 betrat Kurt Müller das Zimmer seiner Mutter in der Dillstraße 16, das noch nicht eingerichtet war. Dort fand er seine Schwester und seine Mutter "besinnungslos im Bette" vor. Sie hatten Schlaftabletten eingenommen. Der Polizei sagte Kurt Müller an jenem Tag: "Zum Motiv der Tat, kann ich sagen, daß sie den Selbstmordversuch unternommen haben, weil meine Schwester, Frau Lieber sich heute, um 11.00 Uhr, in der Hartungstr. Nr. 11, zwecks Evakuierung melden sollte." Hinter "Hartungstraße" verbarg sich das Jüdische Gemeinschaftshaus, das für diese Deportation als Sammelstelle diente.

Kurt Müller hielt am 5. März 1946 fest: "Meine arische Mutter überwand den Verlust ihres Lieblingskindes in dieser Form nicht und vergiftete sich ebenfalls." Helene Lieber wurde mit einem Krankenwagen in das Jüdische Krankenhaus in der Johnsallee 68 gebracht, wo sie am 11. Juli 1942 um 12.15 Uhr verstarb. Frida Müller, die ja keine Jüdin war, wurde ins Hafenkrankenhaus gebracht, wo sie am 11. Juli 1942 um 11.15 Uhr verstarb.

Von der ursprünglich fünfköpfigen Familie blieben in Hamburg nun noch Simon Müller und sein Sohn Kurt übrig. Da Helene Lieber ihre Mutter um eine Stunde überlebt hatte, erhielt sie formal einen Teil der Erbmasse, die ihr überlebender Bruder Kurt "in bar anschaffen" und "trotz langen Sträubens abführen" musste. Am 19. Februar 1945 zahlten die Miterben 5751.64 Reichsmark bei der Oberfinanzkasse Hamburg ein.

Simon Müller wohnte nach dem Tod seiner Frau und seiner Tochter noch bis zum 2. Dezember 1942 in der Dillstraße 16. Dann kehrte er zu seinem Sohn in die Feldstraße 46 zurück. Er hatte – so der Sohn – schon in der Zeit vor dem Suizid seiner Frau und seiner Tochter sehr zurückgezogen gelebt, "nach deren Zwangstod aber verließ er fast gar nicht mehr das Haus."

Die Familien Müller und Knippschild bewohnten in dieser Zeit die unteren zwei Etagen in der Feldstraße 46: Im ersten Stock lebten Simon Müller, Kurt Müller und seine Frau Martha, geborene Knippschild, mit ihrem Sohn Karl-Heinz aus einer früheren Beziehung; im Erdgeschoss die Eltern von Martha – Elise und Heinrich Knippschild – sowie ihre Schwester Elisabeth Rogers mit Tochter Karin Lily. Vom Erdgeschoss in den ersten Stock gelangten sie nur über eine Leiter. Die oberen Stockwerke des Wohnhauses, das sich nun im Besitz von Kurt Müller befand, waren zerstört und unbewohnbar.

Simon Müller war zum Zeitpunkt des Suizids seiner Frau und seiner Tochter 77 Jahre alt. Seine Familie war zerstört, seine Firma Geschichte, sein Haus schwer beschädigt, und er geriet nun noch stärker in den Fokus der nationalsozialistischen Verfolgung: Durch den Tod seiner nichtjüdischen Ehefrau hatte er den Schutz der Mischehe verloren, das heißt er musste fortan den Judenstern tragen, den seine Schwiegertochter ihm aufgenäht hatte. Am 17. Januar 1944 erhielt Simon Müller den Deportationsbefehl für den 19. Januar. Er kam ihm nicht nach.

Es war der Tag, an dem sein Zimmer verdunkelt blieb. Kurt Müller und Elisabeth Rogers betraten es schließlich gemeinsam. Simon Müller lag reglos im Bett. Die Polizei wurde verständigt. Revierpolizist Urban gab später zu Protokoll, dass Müller "noch Lebenszeichen" von sich gegeben habe und auf einem Tisch neben dem Bett "2 leere Glasröhrchen" gelegen hätten. Ein Krankenwagen brachte Simon Müller in das Jüdische Krankenhaus, das inzwischen in die Schäferkampsallee 29 verlegt worden war. Dort verstarb er am späten Nachmittag.

Stand: März 2024
© Benjamin Braden

Quellen: Staatsarchiv Hamburg (StaH) 331-5, Polizeibehörde – Unnatürliche Sterbefälle, 3, 131/1944, ebd. 3, 1088/1942, ebd. 3, 1145/1942; StaH 351-11, Amt für Wiedergutmachung, Nr. 25140 und Nr. 37351; StaH 213-13, Landgericht Hamburg – Wiedergutmachungskammer, Nr. 4440, ebd. 4439; StaH, 314-15 Oberfinanzpräsident, Nr. R 1938/2996; StaH Landesbildstelle / Denkmalschutzamt Bildarchiv, 720-1/343-1_01037_15 Feldstraße Nr. 46/47, Bombenschäden, 1941.05.09, 332-7 Staatsangehörigkeitsaufsicht, B III 120 193; Niedersächsisches Landesarchiv Aurich, Rep. 248 Nr. 970; Sterberegister Haselünne 1874-1915, Nr. 62, https://cloud.emsland.de/index.php/s/AmXQGSAkeNN6zFt, aufgerufen am 17. August 2022; Bezirksamt St. Pauli, Grundakte St. Pauli Nord, Nr. 115, Buch I, S. 15ff.; Hamburger Adressbuch 1909; Erinnerungen von Karin Lily Brüggen, geb. Rogers. Telefonat im Juli 2022; Landesarchiv Berlin (LA Bln.), Personenstandsregister Heiratsregister, laufende Nummer 402, Nr. 207, https://www.ancestry.de/discoveryui-content/view/186690408:2957?tid=&pid=&queryId=5d7d334fc30bfa404867cea01c7b3eb8&_phsrc=rye9&_phstart=successSourc

druckansicht  / Seitenanfang