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Dr. Magnus Bernhard Siems
Dr. Magnus Bernhard Siems
© Privatbesitz

Magnus Bernhard Siems * 1882

Conventstraße 23 (Wandsbek, Eilbek)


HIER WOHNTE
DR. MAGNUS
BERNHARD SIEMS
JG. 1882
VERHAFTET
KZ FUHLSBÜTTEL
ERMORDET 14.7.1938

Magnus Bernhard Siems, geb. 6.2.1882 in Krögerdorf, Krs. Elsfleth, mehrfach inhaftiert, gestorben im Polizeigefängnis Fuhlsbüttel am 14.7.1938 durch Suizid

Conventstraße 23

"Auf der gestrigen Kundgebung des Kreises Altona der NSDAP, auf welcher der Gauleiter Karl Kaufmann sprach, ereignete sich ein kleiner Zwischenfall. Ein Versammlungsteilnehmer, der die Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte, benutzte dazu einen Revolver, der mit Platzpatronen geladen war, und gab einen Schuss in die Luft ab."

Mit dieser Meldung berichteten die Norddeutschen Nachrichten am 13. November 1937 über ein Ereignis, das den "Schützen" knapp ein Jahr später das Leben kosten sollte.

Der "Schütze" war Magnus Bernhard Siems, geboren am 6. Februar 1882 in Krögerdorf bei Elsfleth. Er war das zweite von sieben Kindern des Landwirts Gerhard Siems und seiner Ehefrau Johanne, geborene Öttken. Er besuchte die Gymnasien in Oldenburg und Norden. Ab 1902 studierte er Rechtswissenschaft in Tübingen, Leipzig, München und Berlin. Nach erfolgreicher Promotion zum Doktor der Rechtswissenschaft unterrichtete Magnus Siems von 1910 bis zur Einberufung zum Kriegsdienst im Jahre 1915 als Handelslehrer. Als Armierungssoldat musste er nach Russland und nach Frankreich. Nach der Entlassung aus dem Wehrdienst im Jahre 1919 war Magnus Siems wieder als Handelslehrer tätig, zunächst in Berlin, ab 1920 in Wandsbek. Dort brachte er es in den 1930er Jahren an der Handels- und Berufsschule Witthöffstraße 1 zum Handelsoberlehrer.

1922 heiratete er die Hilfsschullehrerin Grete Wülfken. Diese Ehe wurde nach nur eineinhalb Jahren wieder geschieden, 1930 heirateten Grete und Magnus Siems erneut. Die Ehe blieb kinderlos.

Während der Vernehmungen zu dem Scheinattentat erklärte Magnus Siems gegenüber der Polizei, er habe weder politischen Organisationen noch Verbänden oder Parteien angehört. Von 1927 bis 1933 habe er die Volksrechtspartei gewählt. Die Reichspartei für Volksrecht und Aufwertung (Volksrechtpartei – VRP) vertrat zwischen 1926 und 1933 die Interessen der Inflationsgeschädigten. Sie gehörte zu einer Gruppe von Splitterparteien, die bei den Reichstagswahlen im Mai 1928 Erfolge auf Kosten der größeren bürgerlichen Parteien, insbesondere der Deutschnationalen Volkspartei erzielten. Später wandten sich ihre Wähler häufig der NSDAP zu.

Nach eigener Aussage gehörte Magnus Siems dem NS-Lehrerbund an, dem Reichsluftschutzbund (R.L.B.), der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (N.S.V.) und dem Verband der Auslandsdeutschen (V.d.A.). Der NSDAP stand er seit der Machtübergabe sympathisierend gegenüber, aber er habe sich nicht zu einer Mitgliedschaft entschließen können, weil er deren Rechtsauffassung ablehne.

Magnus Siems hatte sich seit seiner Studienzeit intensiv mit juristischen und rechtsphilosophischen Fragen, insbesondere mit dem Naturrecht, beschäftigt. Er vertrat den Standpunkt, dass es ein absolutes, d. h., nicht an Zwecken orientiertes Naturrecht gäbe. Dieses Naturrecht sei nicht ohne weiteres für das praktische Leben geeignet, sondern es müsse in der Praxis mit Gedanken der Billigkeit und Erwägungen des Nutzens für die Allgemeinheit und den Staat durchgesetzt werden. Grundlage aller Gesetze müsse das Naturrecht, das Recht im eigentlichen Sinne, bleiben.

Magnus Siems hatte zwischen 1915 bis 1926 mehrere Broschüren darüber verfasst und verschickt. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme – so Magnus Siems in der Vernehmung – habe er bis 1936 auf Werbemaßnahmen für seine Rechtslehre verzichtet. Ihm seien nämlich nach der Versendung eines Aufsatzes mit dem Titel "Die Rechtsauffassung des gesunden Menschenverstandes und die nationalsozialistische Rechtslehre" an Hamburger Juristen und nach Cuxhaven, Bergedorf und Altona weitere Veröffentlichungen vom Regierungspräsidenten Schleswig untersagt worden. 1937 übersandte Magnus Siems den Aufsatz jedoch an Reichsjustizminister Gürtner, Reichspropagandaminister Goebbels, Reichsaußenminister von Neurath, Reichsminister ohne Geschäftsbereich Frank, Reichsstatthalter Kaufmann und die Präsidenten der drei Hamburger Gerichte, ohne eine Antwort zu erhalten. Schon vor­her hatte sich Magnus Siems an Adolf Hitler gewandt mit der Bitte, seinen Aufsatz veröffentlichen zu dürfen. Abgesehen von einer Prüfungszusage wurde nicht reagiert. Auch die Deutsche Juristenzeitung und der NS-Rechtswahrerbund reagierten auf seine wiederholten Veröffentlichungsbegehren nicht.

Enttäuscht wandte er sich an drei katholische Bischöfe, u. a. an den Bischof von Münster, Graf von Galen. Von ihm erhielt er eine Antwort, nach der das Naturrecht Richtschnur und Maßstab des Gesetzesrechts sei. Dies befriedigte Magnus Siems jedoch nicht. Auch vom Präsidenten des Kongresses der Internationalen Vereinigung für Rechtsvergleichung in Scheveningen, an den er sich schon vorher gewandt hatte, erhielt er keine Antwort. "... so glaubte ich, zu dem letzten Mittel, das mir zu Gebote stand, greifen zu müssen, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf meine Rechtslehre zu lenken und die Juristen, die nach meiner Auffassung stets den Mantel nach dem Winde hängen, zu beschämen."

Als Magnus Siems im Hamburger Anzeiger las, dass Reichsstatthalter Kaufmann in den Ausstellungshallen in Altona sprechen wollte, kam er auf den Gedanken, für seine Rechtslehre zu demonstrieren. In einem Munitionsgeschäft am Steindamm kaufte er für seinen sechsschüssigen Trommelrevolver 15 Platzpatronen. Im Wandsbeker Gehölz gab er zwei Probeschüsse ab, um sich von der Gebrauchsfähigkeit des Revolvers zu überzeugen. Damit seine Absicht nicht fehlinterpretiert würde, schrieb er Briefe an zwei zufällig aus dem Adressbuch ausgewählte Personen. Darin bezeichnete er die beabsichtigte Tat als Demonstration für die Anerkennung seiner Lehre und kündigte an, dass er nur mit Platzpatronen schießen würde. Er unterschrieb mit dem falschen Namen Bernhard Siemer.

Er fuhr mit der Vorortbahn (heutige S-Bahn) nach Altona, ging in die Ausstellungshallen an der damaligen Flottbeker Chaussee und feuerte während der Rede einen Schuss ab. Bei zwei weiteren Schussversuchen versagte der Revolver. Die Umstehenden reagierten sofort. Ihm wurde die Waffe aus der Hand geschlagen. Ein Versammlungsteilnehmer schlug ihm mit einem Spazierstock auf den Kopf. Er wurde zu Boden geworfen. Es entstand ein Tumult, in dessen Verlauf Magnus Siems festgenommen und im Anschluss von Kriminalbeamten in das Polizeigefängnis Altona gebracht wurde.

Während des Verhörs erklärte Magnus Siems zunächst, er heiße Bernhard Siemer und sei Redakteur. Bis zur Machtübergabe sei er beim "Vorwärts" tätig gewesen. Später sei er nach Paris ausgewandert und im November 1937 auf ungesetzlichen Wegen nach Deutschland zurückgekommen. Im Verlaufe des Verhörs änderte er seine Aussage. Er habe sich in einer Entfernung von etwa 15 m vom Rednerpult gesetzt. Obwohl das möglich gewesen wäre, habe er nicht näher am Rednerpult sitzen wollen. Ihm sei es ausschließlich um die Demonstration zu Gunsten seiner Rechtslehre gegangen, nicht aber um die mögliche Verletzung des Gauleiters. Etwa 300 Exemplare seines Aufsatzes habe er per Post an aus dem Adressbuch ausgesuchte Pastoren, Philologen und Ärzte verschickt. Insgesamt habe er 1937 wohl ca. 700 Exemplare versandt. Die Vervielfältigung hatte eine Schreibstube am Landwehrbahnhof übernommen. Mit den zunächst unwahren Angaben habe er die Polizei irreführen und Zeit gewinnen wollen, damit die versandten Briefe und Broschüren ihre Adressaten noch erreichen könnten. Er bestand darauf, dass die Handlung keine politischen Hintergründe habe, sondern betrachte sich – politisch gesehen – als Nationalsozialist und bekämpfe lediglich die nationalsozialistische Rechtslehre. Er sei der Ansicht, dass der "Führer" hinsichtlich der Rechts­frage nicht richtig von dem Reichsminister Frank orientiert werde.

Magnus Siems wurde in das "Polizeigefängnis Fuhlsbüttel" überstellt und in "Schutzhaft" genommen. Von Fuhlsbüttel aus wurde er in die Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn verlegt. Dort entstand im Februar 1938 ein umfangreiches psychologisches Gutachten mit dem Ergebnis, man müsse annehmen, dass Magnus Siems zur Zeit der Tat geisteskrank im Sinne des damaligen § 51 Abs. 1 RStGB (Zurechnungsfähigkeit oder verminderte Zurechnungsfähigkeit) und seine Internierung gemäß § 42 b RStGB der damaligen Fassung (Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt) erforderlich sei. Am 5. Mai 1938 entschied das Landgericht Hamburg vorläufig die Fortdauer der einstweiligen Unterbringung in Langenhorn. Ende Juni 1938 lehnte das Landgericht Hamburg einen Antrag der Staatsanwaltschaft auf dauerhafte Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt ab, weil die Tat als grober Unfug einzustufen sei und eine Unterbringung nicht rechtfertige und das Gericht entgegen der unsicheren Diagnose des psychologischen Gutachtens überzeugt sei, dass die Tat nicht im Zustande der Unzurechnungsfähigkeit oder verminderten Unzurechnungsfähigkeit begangen worden sei.

Daraufhin kam Magnus Siems auf Befehl der Gestapo am 30. Juni 1938 erneut in Fuhlsbüttel in "Schutzhaft", weil es, so die damalige Begründung, "zu der Befürchtung Veranlassung gibt, dass er auch ferner zur Durchsetzung seiner Ideen seine Freiheit dazu benutzen wird, erneut in Parteiveranstaltungen oder bei Besuchen führender Persönlichkeiten von der Schusswaffe Gebrauch zu machen".

Damit war das Schicksal von Magnus Siems besiegelt. Er wurde laut Sterbeurkunde am 14. Juli 1938 morgens um 5.30 Uhr tot aufgefunden. Nach einem an die Geheime Staatspolizei gerichteten Schreiben des Polizeigefängisses vom 14. Juli 1938 "hing [Siems] an der Fensterstütze und hatte sich zum Erhängen seines Bettlakens bedient."

Stand: Juni 2023
© Ingo Wille

Quellen: AB; StaH 213-11 Staatsanwaltschaft Landgericht – Strafsachen 8708/38; StaH 332-5 Standesämter 9895-139/1938; StaH 351-11 Amt für Wiedergutmachung 18881; http://de.wikipedia.org/wiki/Reichspartei_f%C3%BCr_Volksrecht_und_Aufwertung (Zugriff am 18.8.2013).

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