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Porträt, Marie Weber, 17 Jahre alt
Marie Weber, 17 Jahre alt
© Ev. Stiftung Alsterdorf, Archiv

Marie Weber * 1909

Ritterstraße 29 (Wandsbek, Eilbek)


HIER WOHNTE
MARIE WEBER
JG. 1909
EINGEWIESEN 8.4.1935
ALSTERDORFER ANSTALTEN
‚VERLEGT’ 16.8.1943
HEILANSTALT
AM STEINHOF WIEN
TOD AN DEN FOLGEN
14.6.1945

Marie Weber, geb. am 29.5.1909 in Hamburg, gestorben am 14.6.1945 in der Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien

Ritterstraße 29 (Ritterstraße 31)

Am 28. Oktober 1921 bat die Witwe Röhrs um die Aufnahme ihrer "schwachsinnigen" Enkelin Marie Weber in eine Anstalt. Marie war zwölf Jahre alt und von der Schulpflicht befreit. Sie lebte bei der Großmutter "wegen des heftigen Charakters des Vaters, vor dem das Kind sich fürchtet. Marie ist gutmütig und sauber". Am 27. Februar 1922 wurde Marie Weber in den damaligen Alsterdorfer Anstalten aufgenommen, das Wohlfahrtsamt übernahm die Kosten.

Maries Vater, der Schlachter Robert Weber, geboren 1873, stammte aus einer Gastwirtsfamilie in Gardessen bei Braunschweig, ihre Mutter Frieda, geborene Röhrs, acht Jahre jünger als ihr Mann, aus einem Hamburger Tischlerhaushalt. Sie heirateten am 20. August 1908 und zogen in die Sternstraße 19 in St. Pauli, wo am 29. Mai 1909 als erstes ihrer vier Kinder Marie zur Welt kam. Marie wurde am 27. Juli 1909 in der Kirchengemeinde St. Pauli evangelisch getauft.

Mit einem Jahr konnte sie gehen, mit eineinhalb Jahren sprechen, war im Wesen vergnügt und umgänglich, wirkte aber in ihrer geistigen Entwicklung zurückgeblieben. Sie wurde in eine reguläre Volksschule eingeschult, die sie verließ, ohne Lesen und Schreiben gelernt zu haben. Ihre Schwester Else starb mit fünf Jahren an Scharlach, ein Bruder und eine weitere Schwester wuchsen ohne Auffälligkeiten heran.

Marie Webers Aufenthalt in Alsterdorf endete auf Wunsch der Eltern nach neun Monaten im November 1922 mit ihrer Entlassung. Inzwischen lebte die Familie in Eilbek. Die Eltern brachten Marie jedoch nach einem Jahr nach Alsterdorf zu­rück. Ihre Hilfsbedürftigkeit und ihr unberechenbares Verhalten überforderten die Mutter. Inzwischen 14 Jahre alt, beschäftigte sich Marie in ihrer Abteilung am liebsten mit Bauklötzen. Fühlte sie sich gestört, schlug sie um sich. Nach drei Jahren in Alsterdorf, in denen die erhoffte Entwicklung nicht eingetreten war, informierte die Anstaltsleitung Maries Vater, dass sie nicht mehr für die Alsterdorfer Anstalten geeignet sei, "da ihre Erregungszustände, in denen sie auch tätlich gegen ihre Um­gebung wird, in den letzten Wochen stark zugenommen haben. Wir mussten sie deshalb heute nach der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg überführen."

In Friedrichsberg wurde als eine Ursache für Marie Webers Erregbarkeit ihre extreme Geräuschempfindlichkeit erkannt. In ruhiger Umgebung war sie heiter und freundlich und verrichtete ihre Arbeit im Gemüsekeller mit Ausdauer. Sie gewann Anerkennung für ihre Musikalität, ihr Spiel auf der Mundharmonika und ihr interessiertes Zuhören, wenn Klavier gespielt wurde, wobei ihr Oberkörper dem Rhythmus folgte.

1932 wurde Marie Weber entmündigt. Drei Jahre später, am 3. April 1935, kehrte sie von Friedrichsberg in die damaligen Alsterdorfer Anstalten zurück. Sie erhielt einen Vormund zur Regelung ihrer Vermögensangelegenheiten. Abgesehen von einem Zwischenfall, als ein Brand ausbrach, der sie so erregte, dass sie zum Schlafen in den Wachsaal (s. Harry Becker) gebracht werden musste, verliefen die Jahre wie in Friedrichsberg: Sie hörte gern Musik, war heiter, gab Anlass zur Heiterkeit und beschäftigte sich mit kleinen Tätigkeiten. "Sie muss mit Güte behandelt werden", lautete einer der wenigen Einträge in ihrer Akte. Er datierte vom 13. April 1943. Ohne dass die Gründe dafür erkennbar wären, nahm Marie von Juli 1939, als sie mit 72 kg ein maximales Gewicht hatte, bis August 1943 20 kg ab. Entgegen der Einsicht, dass sie mit Güte zu behandeln sei, wurde sie wenige Monate später, am 16. August 1943, mit dem Transport von 228 Mädchen und Frauen von Alsterdorf in die Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien deportiert. Bei ihrer Aufnahme schwieg sie auf die Fragen des Arztes.

Marie Webers Mutter wurde bei den Luftangriffen im Juli 1943 auf Hamburg ausgebombt und in die Oberpfalz evakuiert. Es dauerte bis April 1944, bis sie Kontakt zu ihrer Tochter bekam. Die Anstaltsleitung in Wien teilte ihr mit, dass Marie immer ruhig sei und sich mit mechanischen Heimarbeiten beschäftige; sie wies außerdem darauf hin, dass ihr Körpergewicht unverändert sei. Im Januar 1945 wurde Marie in die Pflegeanstalt verlegt. Dort befand sie sich noch, als der Krieg endete. Im Juni 1945 war sie auf 39 kg abgemagert, wurde hinfällig und litt an heftigen Durchfällen, an denen sie bei schwerer Auszehrung am 14. Juni 1945 starb. Sie wurde 36 Jahre alt.

Stand Februar 2014
© Hildegard Thevs

Quellen: Ev. Stiftung Alsterdorf, Archiv, V 217; StaH 332-5 Standesämter 3113-428/1908; Jenner, Meldebögen, in: Wunder/Genkel/Jenner, Wunder, Genkel, Jenner, Auf dieser schiefen Ebene; Wunder, Abtransporte, in: Wunder, Genkel, Jenner, Auf dieser schiefen Ebene; ders., Exodus, ebd.

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