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Harald Seligmann jr. * 1918

Schwanenwik 29 (Hamburg-Nord, Uhlenhorst)


HIER WOHNTE
HARALD
SELIGMANN JR.
JG. 1918
´SCHUTZHAFT` 11.1.1945
GEFÄNGNIS FUHLSBÜTTEL
KZ NEUENGAMME
ERMORDET 1945

Weitere Stolpersteine in Schwanenwik 29:
John Hasenberg, Harald Seligmann

Harald Seligmann senior, geb. 9.5.1886, mehrfach inhaftiert, zuletzt im KZ Neuengamme, ermordet im Juni 1942 in der Landes Heil- und Pflegeanstalt Bernburg/Saale

Schwanenwik 29
Neuer Jungfernstieg 9-14, Hotel Vier Jahreszeiten

Harald Seligmann junior, geb. 19.10.1918, mehrfach inhaftiert, zuletzt im KZ Neuengamme, ermordet 1945

Schwanenwik 29

Harald Seligmann war am 9. Mai 1886 in Hamburg geboren worden. Seine Eltern waren Carl und Johanna Seligmann, geb. Peine. Carl Seligmann arbeitete als Auswanderer-Expedient bei der HAPAG. Die Familie gehörte der Jüdischen Gemeinde an. Harald Seligmann besuchte die Anton-Rée-Realschule und absolvierte anschließend eine dreijährige Ausbildung zum Gastronom.

Von 1908 bis 1910 diente er als Soldat erst im preußischen 85. Infanterie-Regiment und dann durchgängig während des Ersten Weltkrieges. 1914 war er zur Marine eingezogen und in Kiel in einer Spionageabwehrabteilung eingesetzt worden. Zwischen diesen Zeiten arbeitete er als Gastwirt oder fuhr als Kochmaat oder Koch zur See.

Am 19. April 1916 heiratete er in Kiel die am 12. Juni 1888 in Vilshofen bei Passau geborene Kreszenz Bianca Dick. Diese hatte nach dem frühen Tod ihrer Mutter in Florenz ein Pensionat besucht und gehörte der römisch-katholischen Kirche an. Am 19. Oktober 1918 wurde in Kiel der Sohn Harald jr. geboren. Anlässlich der Taufe seines Sohnes trat Harald Seligmann vom jüdischen zum katholischen Glauben über.

Seit Januar 1924 arbeitete Harald Seligmann senior als Nachtportier im Hotel "Vier Jahreszeiten" in Hamburg. Ende der 1920er-Jahre bezog die Familie eine Wohnung im Schwanenwik 28, 1931 Schwanenwik 29. Im Haus Schwanenwik 29 betrieb Bianca Seligmann eine kleine Pension; Näheres darüber ist nicht bekannt.

Nach den "Nürnberger Rassengesetzen" galt Harald Seligmann als Jude, da er einer jüdischen Familie entstammte. Damit gehörte er jenem Personenkreis an, der in Deutschland nach 1933 systematisch stigmatisiert, ausgegrenzt und vertrieben wurde. Den Menschen wurden Lebensgrundlagen genommen. Die Entlassung Harald Seligmanns als Nachtportier im März 1938, acht Monate vor der Pogromnacht vom November 1938, nur weil er Jude war, dürfte ihn und seine Familie sehr schwer getroffen haben. Einerseits bedeutete die Entlassung mit anschließender Arbeitslosigkeit eine Demütigung für einen Mann mit seiner soldatischen Vergangenheit, der selbst in nationalen Kreisen ein geachteter Bürger war. Andererseits fehlte der Familie fortan sein Einkommen.

Sein Sohn Harald Seligmann jr. gehörte bis 1936 der Hitlerjugend an. Als bekannt wurde, dass er der Sohn eines Juden und somit "Halbjude" war, erfolgte sein Ausschluss. Von 1925 bis 1935 besuchte er eine katholische Schule, dann die Oberrealschule auf der Uhlenhorst. 1937 bestand er das Abitur, absolvierte im selben Jahr den obligatorischen halbjährigen Arbeitsdienst und begann an der Hansischen Universität Hamburg ein Chemiestudium. Mit der Kündigung seines Vaters war das weitere Studium aus finanziellen Gründen infrage gestellt. Er nahm in dieser Zeit einen Hilfsjob als Laborant beim Hamburger Gaswerk an.

Bianca Seligmann sah sich in dieser Situation genötigt, eine Gastwirtschaft zu eröffnen, um dem Sohn das Studium zu ermöglichen und die Familie zu ernähren. Eine Konzession dafür wurde ihr zunächst verwehrt, da sie mit einem Juden verheiratet war. Stattdessen legten ihr die Verantwortlichen die Scheidung binnen vier Monaten nahe und stellten in Aussicht, dass sie dann die Konzession bekommen würde. Harald und Bianca Seligmann einigten sich aus wirtschaftlichen Erwägungen auf Scheidung.

Dem Gericht gegenüber berichteten sie von einem zerrütteten Eheleben, für das Harald Seligmann alle Schuld auf sich nahm. Die am 25. August 1938 ausgesprochene Scheidung wurde zum 30. September 1938 rechtskräftig. Bianca Seligmann nahm wieder ihren Mädchennamen "Dick" an. Sie erhielt die Konzession und eröffnete in Hamburg-St. Georg in der Bremer Reihe 25 eine Gastwirtschaft. Viele Gäste waren hier Italiener – vermutlich wegen der italienischen Sprachkenntnisse von Bianca Dick und ihrem italienischen Bekanntenkreis. Dort bezog sie auch eine kleine Wohnung. Harald Seligmann blieb mit seinem Sohn in der Wohnung Schwanenwik 29.

Nach der Scheidung blieb die Familie – trotz Verbots – im freundschaftlichen Kontakt. Die geschiedenen Eheleute telefonierten täglich miteinander und besuchten sich. Das wurde sehr bald der Polizei zugetragen. Liebesbeziehungen zwischen nicht "Ariern" und Juden waren nach den Nürnberger Gesetzen verboten und galten als "Rassenschande"; dies wurden jetzt dem geschiedenen Paar unterstellt. Harald Seligmann wurde am 6. März 1939 verhaftet – vermutlich auf Veranlassung des 23. Kommissariats der Kriminalpolizeileitstelle Hamburg (K23), das für "Rassenschande"-Fälle zuständig war. Ein sogenanntes Geständnis, so scheint es, wurde erpresst, bis die Angaben den Tatbestand der "Rassenschande" erfüllten. In dem Urteil der 6. Großen Strafkammer des Landgerichts Hamburg vom 11. August 1939 heißt es entsprechend: "Der Angeklagte hat zunächst jeglichen Geschlechtsverkehr mit seiner früheren Frau bestritten, ist jedoch jetzt geständig."

Das Gericht verurteilte ihn zu einer Gefängnisstrafe von zwei Jahren. Meist waren in diesen Prozessen Zuchthausstrafen üblich. Doch strafmildernd, so heißt es im Urteil, habe das Gericht den Umstand bewertet, "dass der Angeklagte allein mit seiner früheren Frau, mit der er 22 Jahre verheiratet war, gesetzwidrige Beziehungen unterhalten hat".

Für Bianca Dick hatte diese Verurteilung die Konsequenz, dass sie die Konzession für den Betrieb der Gastwirtschaft verlor und für die folgende Zeit keinerlei staatliche Unterstützung erhielt. Außerdem standen Ex-Frau und Sohn fortan unter besonderer Beobachtung der Polizei.

Harald Seligmann kam in das Männergefängnis Fuhlsbüttel. Seine dort angelegte Akte trug auf dem Deckel den Schriftzug "Jude!". Im Alltag bedeutete dieser Vermerk für den Verurteilten zusätzliche Haftverschärfungen. Er war von Mitgefangenen isoliert untergebracht und musste als "Tütenkleber" arbeiten.

Zu Beginn der Haft in Fuhlsbüttel bereitete ihm die Verhaftung seines Sohnes wegen "Heimtücke" große Sorgen, wie aus seinen Briefen ersichtlich wird. Er musste die Erlaubnis für jeden Brief beantragen, um sich an seine geschiedene Frau, an seinen Sohn und an dessen Rechtsanwalt zu wenden. Einige Schreiben wurden ihm gestattet. Die Briefe durchliefen die Briefzensur der Staatsanwaltschaft, bevor sie der Post übergeben wurden. Einer seiner Briefe an den Sohn ist erhalten:

Schreiben Harald Seligmanns an seinen Sohn, März 1940, Auszug (Abschrift ohne Korrekturen)
"Mein lieber guter Junge! Wenn ich erst heute dazu komme Dir Deine lieben Zeilen vom 11. Febr. zu beantworten so darfst du versichert sein daß es mir leider nicht möglich war es früher zu thun. Das mir Dein Schiksal viel Sorge u. Kummer macht kannst Du Dir wohl denken, aber ebenso Überzeugt bin ich auch von Deiner Unschuld, u. so danke ich Dir mein guter Junge für deine Trostreichen Worte u. Deinen Mut u. Gottesvertrauen mit welchem Du Dein Unverdientes Schiksal trägst."

Gefängnisinsassen durften in Abständen von mehreren Wochen Briefe schreiben und den Besuch eines nahestehenden Familienangehörigen empfangen. Diese Vorgänge wurden in der Gefangenenpersonalakte dokumentiert. Bemerkenswert ist, dass Bianca Dick mehrfach die Erlaubnis erhielt und nutzte, ihren geschiedenen Ehemann zu besuchen. Der letzte Besuch fand am 9. Mai 1940 statt. Weitere wurden ihr anschließend untersagt, vermutlich auf Veranlassung der Staatsanwaltschaft. Sein Sohn besuchte ihn ab Oktober 1940 alle zwei Monate, zuletzt am 10. April 1941. Monatlich schrieb Harald Seligmann Briefe an seinen Sohn, 1939 und Anfang 1940 auch an Bianca Dick. Als "Empfänger" ist in der Akte "Ehefrau" vermerkt.

Intensiv betrieb Harald Seligmann aus der Haft heraus, soweit es ihm möglich war, seine Auswanderung für die Zeit nach seiner Freilassung. Bereits 1938 hatte er den Behörden gegenüber bekundet, schnellstmöglich auswandern zu wollen. Den Vermerken in seiner Gefangenenakte zufolge schrieb er 1940/41 an jüdische Einrichtungen in Berlin und Hamburg, an weitere Personen und Organisationen im In- und Ausland und an einen Verwandten, Hans Seligmann. Noch am 4. Mai 1941, wenige Tage vor seiner Entlassung aus dem Gefängnis, bat er um die Erlaubnis, seinem Verwandten Hans Seligmann wegen der bevorstehenden Haftentlassung am 18. Mai und der beabsichtigten Auswanderung schreiben zu dürfen. Er beabsichtigte, nach seiner Entlassung zunächst bei Hans Seligmann, Lehmweg 9, unterzukommen und seine Auswanderung in die Hand zu nehmen. Diese Bitte wurde abgelehnt.

In der Gefangenenakte war bereits vermerkt, dass Harald Seligmann nach Verbüßung der Strafe nicht direkt in die Freiheit, sondern über die Polizei zu entlassen sei, was in der Praxis bedeutete, dass er von der Gestapo in "Schutzhaft" genommen werden würde. Am 21. März 1941 erhielt die Gestapo eine Mitteilung über das bevorstehende Ende der Haft Seligmanns im Männergefängnis Fuhlsbüttel. Letztendlich war es dann aber die Kriminalpolizei (K23), die ihn zunächst in das Polizeigefängnis Fuhlsbüttel (Kolafu) einwies und am 24. Juli 1941 die Überstellung in das Konzentrationslager Neuengamme veranlasste. Dort wurde ihm die Häftlingsnummer 5841 zugewiesen.

Aus der Haft im KZ Neuengamme sind zwei Briefe an seinen Sohn erhalten. In beiden Briefen, die der strengen Zensur der SS unterworfen waren, bringt er seine Verbundenheit mit "all meinen Lieben" zum Ausdruck. Mehrfach fällt der Name "Bernhard"; mit Sicherheit war damit Bianca Seligmann gemeint. Insbesondere bittet er in beiden Briefen um Hilfen, beispielsweise um warme Winterkleidung.

Brief von Harald Seligmann an seinen Sohn, 2. November 1941 (Abschrift ohne Korrekturen):
"Mein l. g. [lieber guter] Junge! Herzlichen Dank für Deinen l. [lieben] mit der Maschine geschriebenen Brief! Sehr traurig aber bin ich [,] gar nichts von zu Hause, u. auch vom guten Bernhard zu hören, wie sieht es zu Hause aus? Was macht Bernhard? Wie geht es all meinen Lieben? Betreffs der Wintersachen m. g. [mein guter] Junge paße bitte genau auf! Vor allem sind die Sachen zur Erhaltung der Gesundheit eures alten Vaters drin [gend notwendig ...]"

Anfang Juni 1942 wurde Harald Seligmann, weil er als Jude galt, mit 294 weiteren Häftlingen abtransportiert. Das Ziel war die Landes-Heil- und Pflegeanstalt Bernburg an der Saale, die als "Euthanasie"-Tötungsanstalt fungierte. Dem Transport gehörten insgesamt 113 jüdische sowie kranke, arbeitsunfähige und vermutlich auch politisch missliebige KZ-Häftlinge an. Unmittelbar nach der Ankunft wurde die Gruppe dort mit Gas ermordet.

Bereits am 5. Juni 1942 begann SS-Unterscharführer Wilhelm Brake, der das Sonderstandesamt des KZ Neuengamme leitete, die Namen der Toten nach und nach und in alphabetischer Reihenfolge in das Sterberegister zu übertragen. Als Sterbeort wurde das KZ Neuengamme angegeben, ebenso eine fiktive natürliche Todesursache. Die Arbeit dauerte für alle Ermordeten fast einen Monat. Bis der Buchstabe "S" erreicht wurde, dauerte es etwa drei Wochen. Am 26. Juni 1942 wurden die Daten von Harald Seligmann erfasst. An diesem Tag sei er eines natürlichen Todes, nämlich an Lungen- und Darmtuberkulose, im KZ Neuengamme verstorben. So die Fälschung. Sein tatsächlicher Todestag in Bernburg ist nicht bekannt.
Harald Seligmann war Opfer einer reichsweiten Mordaktion "14f13" des für die Konzentrationslager zuständigen SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamtes. (Die Ziffern- und Buchstabenkombination setzt sich zusammen aus der Zahl "14" für den Inspekteur der Konzentrationslager, dem Buchstaben "f" für Todesfälle und der Zahl "13" für die Todesart). Insgesamt wurden etwa 20.000 KZ-Gefangene 1941/1942 im Rahmen dieser Aktion in "Euthanasie"-Tötungsanstalten ermordet.

Der Sohn und die Ex-Frau Harald Seligmanns waren weiterer Verfolgung ausgesetzt:
Am 4. Dezember 1939, wenige Monate nach dem Vater, war auch Harald Seligmann jr. Verhaftet worden. Diesmal war es die Gestapo, die gegen den Studenten ermittelte. Ihm wurde "Heimtücke" vorgeworfen.

Ein ehemaliger Mitschüler von der Oberrealschule auf der Uhlenhorst, Albert Nippa, hatte ihn denunziert. Harald Seligmann habe sich ihm gegenüber kritisch zum Nationalsozialismus und Kriegsverlauf geäußert. Er habe das Attentat auf Hitler vom November 1939 (gemeint ist der Anschlag, den Georg Elser am 8.11.1939 verübte) erwartet und er habe ironisch missbilligend reagiert, als ungeplant die NSDAP-Mitgliedschaft Nippas offenkundig wurde. Das hatte Albert Nippa dem politischen Leiter seiner NSDAP-Ortsgruppe berichtet. Daraufhin war die Gestapo verständigt worden.

Der Verhaftung folgten polizeiliche Vernehmungen, die sicherlich mit Misshandlungen im Stadthaus und im Polizeigefängnis Fuhlsbüttel verbunden waren, dann, am 23. Dezember, die Überstellung des 21-Jährigen in das Untersuchungsgefängnis am Holstenglacis und am 15. März 1940 die Verurteilung zu zehn Monaten Gefängnis durch das Hanseatische Sondergericht. Das Gericht schenkte seiner Darstellung der Gespräche keinen Glauben.

Zur Strafverbüßung kam Harald Seligmann zunächst in das Männergefängnis Fuhlsbüttel, zeitweilig auch in die Anstalten Hahnöfersand und Glasmoor. Während der Strafverbüßung empfing Harald Seligmann fünfmal Besuch, davon viermal von seiner Mutter und einmal sogar von seinem inhaftierten Vater und seiner Mutter gemeinsam. Er durfte fünf Briefe schreiben, die alle an seine Mutter gerichtet waren.

Am 15. Oktober 1940 erfolgte seine Haftentlassung. Die Gestapo veranlasste keine anschließende "Schutzhaft" in einem Konzentrationslager; Harald Seligmann kehrte zurück in die Wohnung Schwanenwik 29, in der auch seine Mutter Bianca Dick wieder wohnte.

Anfang November 1943 verhaftete die Kriminalpolizei Harald Seligmann, Bianka Dick sowie einen italienischen Freund der Familie, Antonio Ferrone, wegen angeblicher Kriegswirtschaftsvergehen. Antonio Ferrone war Kaufmann, handelte mit Textilien und hatte Harald Seligmann sowie Bianka Dick mit einbezogen und damit unterstützt. Doch – so der Vorwurf - für 1943 habe Antonio Ferrone keinen Wandergewerbeschein erworben; somit sei der Handel illegal. Ganz offensichtlich war mit diesem Vorgehen das Ziel verbunden, die Verhafteten zu kriminalisieren und ihnen die Existenzgrundlage zu nehmen. Das verdeutlicht der weitere Verlauf der Verfahren. So wurden Harald Seligmann und Antonio Ferrone nach kurzer Polizeihaft wieder freigelassen und das Amtsgericht Hamburg verurteilte beide zu geringen Strafen: Antonio Ferrone erhielt am 17. Dezember 1943 eine Geldstrafe von 200 RM, ersatzweise 20 Tagen Gefängnis, wegen "unbef. [ugten] Bezuges bezugsbeschr. [änkter] Erzeugnisse, Preisüberschreitung". Die Strafe für Harald Seligmann fiel etwas höher aus. Das Urteil vom 23. März 1944 sah wegen "Unterschlagung i. T. [in Tateinheit] mit Ausnutzung nicht zustehender Raucherkarten" eine Gefängnisstrafe von zwei Monaten vor – vermutlich auf Bewährung.

Bianca Dick blieb dagegen längere Zeit in Haft. Auch ihr wurden allgemein Kriegswirtschaftsvergehen vorgeworfen, ohne dass diese Anschuldigung in Vernehmungen oder während der Haft eine Rolle spielte. In ihrem Fall gab es keine weiteren Ermittlungen, keine Anklage der Staatsanwaltschaft und kein Urteil des Amtsgerichts. Sie blieb fast 1 ¼ Jahr in Haft, zuletzt im Frauenzuchthaus Anrath bei Krefeld. Am 27. Januar 1945 wurde sie entlassen und durfte nach Hamburg zurückkehren.

Unterdessen fand Harald Seligmann eine Anstellung als Chemiker in einer Zweigstelle der Firma Vitabio G.m.b.H., die Heilmittel auf Kräuterbasis herstellte. Antonio Ferrone arbeitete bis Mitte 1944 in einem Rüstungsbetrieb, da er ohne Wandergewerbeschein nicht als Kaufmann arbeiten konnte. Vermutlich war ihm diese Arbeit vom Arbeitsamt zugewiesen worden. Mitte 1944 wechselte er in die Firma Vitabio G.m.b.H.

Am 11. Januar 1945 verhaftete die Gestapo sowohl Harald Seligmann als auch Antonio Ferrone. Beiden warf sie staatsfeindliche Betätigung vor. Bei dieser Gelegenheit beschlagnahmte sie persönlichen Schmuck, Wertgegenstände und Bargeld. Sie führte an der Arbeitsstelle von Harald Seligmann eine Razzia durch und veranlasste die Schließung der Zweigstelle der Vitabio G.m.b.H.. Beide Verhafteten wurden in den Räumen der Gestapo im Ziviljustizgebäude am Sievekingplatz/ Glacischaussee verhört und dort sowie im Polizeigefängnis Fuhlsbüttel schwer misshandelt.

Die tatsächlichen Hintergründe dieser Verhaftung sind unklar. Bei den Verhören ging es vornehmlich um eine größere Geldsumme, die Antonio Ferrone für Harald Seligmann vor dem Zugriff der Gestapo versteckt hatte. Die Gestapo misshandelte beide bis zur Bewusstlosigkeit, bis schließlich das Versteck preisgegeben wurde. Wegen politischer Delikte wurde überhaupt nicht ermittelt. So teilte die Gestapo dem italienische Generalkonsulat am 10. April hinsichtlich der Haft von Antonio Ferrone mit, dass ihm staatsfeindliche Betätigung und Waffenbesitz vorgeworfen werde, aber auch, "Seine Überführung an ein Gericht ist nicht beabsichtigt."

Nachdem am 27. Januar 1945 Bianca Dick aus der Haft entlassen worden war, erfuhr sie von der vierzehn Tage zuvor erfolgten Verhaftung ihres Sohnes und des italienischen Freundes. Sofort setzte sie sich bei der Gestapo für die Freilassung der beiden ein. Dort wurde sie beschimpft und mit erneuter Verhaftung bedroht. Sie werde ihren Sohn und den Freund nie wiedersehen, wurde ihr verkündet. Sie informierte auch das italienische Generalkonsulat von der Verhaftung Antonio Ferrones, das daraufhin die Gestapo um Auskunft bat.

Nachdem sie Anfang April 1945 in Fuhlsbüttel erfahren hatte, dass ihr Sohn nicht mehr dort in Haft sei, rief sie erneut die Gestapo an, um etwas über den Verbleib zu erfahren. Die Folge war ihre erneute Festnahme, eine kurze Haft in Fuhlsbüttel und dann der Transport in das Kieler Straflager. Wie Antonio Ferrone überlebte auch sie die Torturen dieses Straflagers und wurde am 2. Mai 1945 in Kiel formal aus der Haft entlassen.

Antonio Ferrone gehörte zu jenen annähernd 800 Häftlingen, die vom 12. April bis zum 15. April 1945 zu Fuß vom Polizeigefängnis Fuhlsbüttel nach Kiel marschieren mussten, angetrieben von Angehörigen der Wachmannschaften. Mehrere Männer wurden auf dem Weg erschossen. Zielort war ein Straflager der Gestapo am Stadtrand von Kiel, das von der Gestapo beschönigend als "Arbeitserziehungslager Nordmark" bezeichnet wurde. In diesem Lager herrschten insbesondere in den letzten Kriegswochen Haft- und Arbeitsbedingungen, die zum Tod hunderter Häftlinge führten. In der Zeit von Ende Juli 1944 bis Kriegsende starben insgesamt mindestens 578 Häftlinge in diesem Lager. Doch Antonio Ferrone überlebte die Haft und kam am 2. Mai 1945 frei.

Für Harald Seligmann hatte die Gestapo einen anderen Weg vorgesehen. Er kam Mitte März 1945 vom Polizeigefängnis Fuhlsbüttel in das KZ Neuengamme. Dort wurde er unter der Häftlingsnummer 78691 registriert. Wann und unter welchen Umständen er dort starb, ist unbekannt. Seine Mutter vermutete nach Kriegsende, dass er am 3. Mai 1945 im Zuge der Räumung des KZ umkam. Das Amtsgericht Hamburg erklärte ihn 1947 für tot und legte den 8. Mai 1945 als Todestag fest, das Kriegsende.

Stand: November 2023
© Herbert Diercks/ Carmen Bisotti

Quellen: 1; 2; 4; 5; 8; Hamburger Adressbücher 1935-1937; StaHH 213-11_72289 bis 72292; StaHH, 213-11_58112; StaHH, 242-1 II_2746; StaHH, 331-1 II_7252; StaHH, 351-11 20746; StaHH, 351-11_28673, Bl. 62; StaHH, 352-6_5199; https://gedenkstaetten-sh.de/gedenkstaetten/gedenkort-arbeitserziehungslager-nordmark-10 (letzter Zugriff 15. November 2023); Arolsen Archives, https://collections.arolsen-archives.org/de/document/130641520 (letzter Zugriff 15. November 2023); Gedenkort "Arbeitserziehungslager Nordmark". Materialien, Fotos und Dokumente zu einer Haftstätte der schleswig-holsteinischen Gestapo in Kiel 1944–1945, überarb. u. erw. Neuauflage, hrsg. vom Arbeitskreis zur Erforschung des Nationalsozialismus in Schleswig-Holstein e. V., Kiel 2011; Hans Robinsohn: Justiz als politische Verfolgung. Die Rechtsprechung in "Rassenschandefällen" beim Landgericht Hamburg 1936–1943, Stuttgart 1977, S. 17; Christian Römmer: "Sonderbehandlung 14 f 13". Die Ermordung von Häftlingen des KZ Neuengamme in der Tötungsanstalt Bernburg, in: Ausgegrenzt. "Asoziale" und "Kriminelle" im nationalsozialistischen Lagersystem. Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, Heft 11, Bremen 2009, S. 209–211; Der Spiegel Nr. 32 / 3.8.1975; KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Totenbuch; Sonderstandesamt Neuengamme, Sterberegister.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

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